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Re-personalisierung politischer Macht

·825 Wörter·4 min
Inhaltsverzeichnis

Re-personalisierung politischer Macht
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Exponentiell sich ausdehnende Systeme scheitern nicht unbedingt an schierer Größe, schon gar nicht an großen Zahlen als solchen, sondern indem sie Strukturen sprengen. So als ob der Klebstoff für ein kompliziertes Gerüst überdehnt und schließlich zerrissen würde. Ohne gesellschaftlichen Zusammenhalt aber erlischt die Bereitschaft zur überpersönlichen Kooperation – und zur Duldung ungleicher Verteilung.

Zahlen markieren lediglich das Ausmaß. Sie sind Symptom, nicht Ursache – auch wenn die Dimensionen in inflationären Zeiten surreal wirken können.

Ein solcherart surreal–illustrierendes wie aktuelles Beispiel aus dem Bereich der Börse, dem Ort, wo Kapital bewegt und Preise gemacht werden:

Im Herbst 2025, zur Zeit, als ich das schreibe, vereinigten die größten sieben US‑Unternehmen in etwa so viel Marktkapitalisierung auf sich wie alle börsennotierten Unternehmen der gesamten EMEA‑Region (Europa und rund um das Mittelmeer) zusammen – rund 20 Billionen Euro.1

Obwohl selbstverständlich die exakten Werte je nach Stichtag, Indexzuschnitt und Wechselkurs (erheblich) schwanken: Entscheidend ist die Größenordnung! Eine Handvoll US-Unternehmen wird höher gewichtet als rund 12.500–14.500 Unternehmen auf der anderen Seite des Atlantiks.

Allein Nvidia mit derzeit circa fünf Billionen US‑Dollar Marktkapitalisierung soll, so signaliert uns diese Zahl, das Zweieinhalbfache des gesamten DAX, also der vierzig größten deutschen Konzerne, wert sein.

Dem Aufbau dieser Spannung, die lange „unter der Hand“ sich entwickelte, lässt sich mittlerweile zuschauen, nämlich politisch.

In dieser Politik–„Sphäre“2 verschieben sich parallel zur extremen Vermögens- und Marktmacht die Anreize weg von demokratischer Willensbildung hin in Richtung auf Re‑Personalisierung von Macht. Ökonomisches Kapital wird getauscht in politisches, also in Deutungsmacht – und diese wird schließlich umgemünzt in gestaltenden Vollzug (Exekutive).

Instutionalisierte Checks and balances, demokratische Kontrolle, Gewaltenteilung und Opposition erodieren und verlieren an Gewicht gegenüber der Exekutive. Der Schwanz wedelt, salopp ausgedrückt, mit dem Hund.

China, Russland, Indien, USA sowie zahllose weltpolitisch unbedeutendere Staaten: Die (noch) demokratische Weltöffentlichkeit staunt, in welchem Ausmaß einzelne Personen Aufmerksamkeit und, vor allem, Macht auf sich ziehen.

Die scheinbar für die Ewigkeit errichteten Säulen der Gewaltenteilung – Legislative, Exekutive, Judikative– tragen selbst die US-amerikanische Vorzeigedemokratie kaum mehr. Entkernt und nur noch repräsentativ–symbolisch ragen sie in den herrschaftlichen Himmel präsidialer Glorie. Loyalität zum Präsidenten ersetzt derzeit alles andere.

Selbst die einmal sakrosankte, von der amerikanischen Verfassung wie kaum anderes geschützte Meinungsfreiheit wird ausgehöhlt. Die Presse wird in „gut“ (loyal zum Präsidenten) und „böse“ (kritisch) eingeteilt. Die Vertreter der „bösen“ Presse werden zunehmend von unmittelbarer Teilhabe ausgeschlossen, etwa indem sie den Präsidenten auf Reisen nicht mehr, wie Jahrzehnte üblich, in der Air Force One begleiten dürfen oder indem sie verzögert mit Informationen versorgt werden.

Wie paralysiert schauen alle, die nicht mitmachen, dem Treiben zu. Nur allmählich formiert sich Widerstand.

Landesweite Proteste in den USA unter Motti wie „No Kings!“ artikulieren die Sorge um den Verlust geschichtlich teuer erkämpfter demokratischer Errungenschaften.

Auch andere gesellschaftliche Säulen – Universitäten und Wissenschaften! – geraten unter massiven politischen Druck. Wie schon Judikative, Legislative und Presse werden sie auf Linie gebracht, indem ihnen staatliche Gelder nur unter sehr restriktiven, von Ideologie diktierten Bedingungen zugeteilt werden.

Die Re-Personalisierung politischer Macht manifestiert sich – und hier wird es sogar grotesk – selbst architektonisch: Ein 30 bis 50 Meter hoher, vom Präsidenten persönlich visionierter Triumphbogen, im Volksmund „Arc de Trump“ genannt, soll in Washington gegenüber dem Lincoln Memorial entstehen – Teil der vom Präsidenten initiierten städtebaulichen Umgestaltung zum anstehenden 250-jährigen Jubiläum der Unabhängigkeit. Und es handelt sich nicht nur um medienwirksame Absichtserklärungen. Der Ostflügel des Weißen Hauses wurde bereits, ohne dass der Präsident jemanden gefragt hätte, abgerissen, um ihn durch einen größeren Ballsaal im pompösen Trump-Stil zu ersetzen. 3

Was wir also beobachten: Unter permanentem Steigerungsdruck – Wachstum! – vergessen Gesellschaften, was ihnen über die Anhäufung von Vermögen hinaus etwas bedeutet; was sie wollen; wohin sie wollen. Selbst wenn ihre Institutionen formal weiter arbeiten, tun sie es sinn–entkernt.

Und schlimmer noch: Die Folgen von Macht‑ und Vermögenskonzentration wirken über einzelne Amtszeiten und Amtsträger hinaus. Langsam offenbart sich jedem: Präsidenten wie Trump und Autokraten wie Xi, Putin, Narenda Modi sind nicht Ursachen, sondern Symptome einer fortschreitenden gesellschaftlichen Krankheit, deren Wurzel der Wachstumsglaube ist.

Das endet vielleicht nicht mit einem abrupten Kollaps. Doch ganz sicher begleitet qualitative Entleerung diesen gesellschaftlichen Prozess:

  • Märkte verlieren ihre Funktion als Entdeckungs‑ und Adaptionsverfahren, wenn Marktmacht, Informationsasymmetrien und Rent‑Seeking4 dominieren.
  • Politik verliert ihre genuine Steuerungsfähigkeit, wenn kurzfristige Machttaktik systemisch notwendige Korrekturen überlagert.
  • Die Menschen verlieren ihr Vertrauen in die Gemeinschaft – die Voraussetzung für Kooperation und für die Belastbarkeit jeder Zivilisation.

Ob auf Einkehr und Einsicht zu hoffen ist, bleibt offen. Darauf bauen sollte man nicht.

Wenn Ungleichheit gesellschaftlich und sozial untragbar geworden ist – wie können wir dann überhaupt noch verantwortungsvoll steuernd eingreifen? Wäre Moral noch eine Option?


  1. Die sogenannten Magnificent Seven: Nvidia, Apple, Microsoft, Alphabet, Amazon, Meta Platforms, Tesla ; vgl. ^https://focus.world-exchanges.org/issue/august-2025/market-statistics, abgerufen Ende Oktober 2025] ↩︎

  2. Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1993, S. 170. ↩︎

  3. Siehe u.a. ^https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/weisses-haus-ostfluegel-100.html , abgerufen am 01.11.2025] ↩︎

  4. Rent-Seeking bezeichnet das Abschöpfen von ökonomischen „Renten“ durch Marktmacht oder politisch erwirkte Privilegien (z. B. Zölle, Lizenzschranken, Lock‑in), statt durch produktive Wertschöpfung. ↩︎