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It's die Verpackung, stupid!

·1948 Wörter·10 min
Inhaltsverzeichnis

Wie unser Gehirn Bedeutung konstruiert und wie das von interessierter Seite (aus–) genutzt wird
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Sie kennen vielleicht schon folgendes Textstück. Lesen Sie es bitte trotzdem!

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Und? Haben Sie es verstanden?

Hier noch einmal richtig geschrieben:

Gemäß der Studie einer englischen Universität ist es nicht wichtig, in welcher Reihenfolge die Buchstaben in einem Wort stehen. Das Einzige, was wichtig ist, ist, dass der erste und der letzte Buchstabe an der richtigen Position sind. Der Rest kann ein totaler Blödsinn sein, trotzdem kann man ihn ohne größere Probleme relativ flüssig lesen.

Die genannte Studie, angeblich der Cambridge-University, ist erfunden.1 Fachleute haben das mehrfach richtiggestellt.2 Doch darum geht es nicht.

Wir können offensichtlich einen Text voller Buchstabendreher lesen und verstehen.

Somit erfüllt der Text seinen Zweck. Nämlich zu veranschaulichen, wie unser Gehirn die vielen chaotischen Sinnesdaten, die unaufhörlich auf uns einströmen, in Bedeutung übersetzt.

Es schafft Ordnung, indem es einordnet – in das Wirklichkeitsgerüst, das jede/r von uns im Laufe eines Lebens aus Erfahrungen, Kontexten und wiederkehrenden Mustern aufbaut. Dieses Gerüst wird ständig ergänzt, bleibt aber immer vorläufig.

Für das Verständnis von Texten reichen so geübten Lesern oft minimale Hinweise, wie etwa die Anfangs- und Endbuchstaben, damit ihr Gehirn Sinn konstruieren kann. Es gleicht ab, sortiert, bewertet – und zwar blitzschnell, ohne unser Zutun.

Diese Fähigkeit zur raschen Sinnbildung ist hilfreich – aber sie ist auch anfällig für Manipulation. Genau das macht sie in politischen Kontexten so interessant.

Politik und Public Relations
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Politiker und Interessengruppen möchten nicht nur gehört werden, sondern beeinflussen.

Dafür nutzen sie unter anderem sprachliche Mittel.

Im politischen Diskurs dominieren zwei Begriffe: „Narrativ“ (Erzählung) und „Framing“ (Rahmung, sprachliche Verpackung).

Ersteres erzeugt den gewünschten Sinnzusammenhang; letzteres beschreibt die emotionalisierte Präsentation, mit der die Aufnahme und Bewertung der Inhalte gezielt beeinflusst wird.

Dieses strategisch kommunikative Doppelgespann steuert – versucht, zu steuern –, wie die Adressatenschaft denkt, fühlt – und wählt. Geschickt eingesetzt, verführt es die Leute, sich gegenseitig das weiterzuerzählen, von dem bestimmte politische Akteure wünschen, dass sie es tun.

Narrative und ihr Framing sollen Botschaften intuitiv verankern. Lästiges Nachfragen und Nachdenken sollen im Ansatz gedämpft, wenn nicht verhindert werden.

Wie funktioniert das?
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Folgende Aspekte spielen eine Rolle:

Menschen bewerten Informationen, wie oben illustriert, nicht isoliert, sondern stets im Licht eines vorhandenen Deutungsrahmens. Dieser Rahmen entscheidet mit, welche Aspekte hervortreten – und welche ausgeblendet werden (Kognitive Voreinstellungen).

Sobald ein solches Erfahrungsgerüst steht, sucht das Gehirn automatisch nach Übereinstimmungen, um innere Stimmigkeit herzustellen. Das erleichtert die Akzeptanz, selbst bei fragwürdigen Inhalten (Kohärenzdruck).

Wie beim Lesen verdrehter Wörter hilft der Kontext, Unstimmiges glattzubügeln. Nur geht es in politischen Diskursen nicht um harmlose Leseexperimente, sondern um interpretative Raster, die Sinn (fremdinduziert) erzeugen (Kontext lenkt Interpretation).

Eine Aussage wirkt glaubwürdiger, wenn sie in einen vertrauten oder scheinbar logischen Rahmen eingebettet ist (Erhöhte Plausibilität).

Es geht nicht um bewusste Zustimmung – sondern um die Aktivierung automatisch verlaufender Verarbeitung von Information. Je weniger die Adressaten nachdenken müssen, desto durchschlagender die gewünschte Botschaft. Denn Nachdenken erfordert Aufmerksamkeit; diese wiederum verbraucht Energie. Narrative und Framing sind demnach ein Angebot, Energie zu sparen – was meist gerne angenommen wird, allerdings um den Preis der Manipulierbarkeit.

Beispiel: Die „Mütterrente“, schön gerahmt
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(Hinweis: Strategische Kommunikation funktioniert parteiübergreifend und ist gängige PR. Die folgenden Beispiele stehen stellvertretend.)

Landauf, landab erzählen uns Politiker des eher konservativen Spektrums, namentlich der CSU, dass – „Endlich!“ – der Mütter gedacht werden müsse, und zwar indem sie Rentenzuschläge erhalten. Das stelle Gerechtigkeit her und anerkenne deren Lebensleistung.

Das passt ins Bild dieser Partei und ihrer Klientel: Es betont die traditionelle Rolle von Familie, Fürsorgearbeit und Elternschaft. Vor allem aber spricht diese strategisch inszenierte Aufwertung der Erziehungsleistung gezielt die weibliche Wählerschaft an.

Und genau das steckt parteitaktisch dahinter.

Professionell wird das nun für die (unter der Hand) angestrebten Zwecke geframt, sprich: kommunikativ gerahmt und ansprechend verpackt.

„Mütterrente“ setzt einen für die Zielgruppe hoch anschlussfähigen Bedeutungsrahmen. Adressiert werden genau die Werte, die dieser Wählerschaft eigen sind. Mit dem ersten Teil, „Mütter–“, zielt man auf das emotionale Zentrum der Kernfamilie. Schon hat man einen Punkt gemacht; bevor über das Instrument „Rente“ gesprochen wird. Die politisch offene Frage – ob die Rentenversicherung überhaupt der richtige Ort für familienpolitische Leistungen ist – entschwindet elegant im Glanz der herzerwärmenden Verpackung.

So transportiert dieses Framing implizit die Botschaft, dass es sich um eine Angelegenheit von Fairness und Dankbarkeit handele. Das Politische daran rückt in den Hintergrund. Wer wollte ernsthaft bestreiten, dass Mütter enorme Leistungen erbringen?

Fragen nach konkreter Umsetzung – Verteilungsgerechtigkeit, Systemlogik oder langfristige Finanzierbarkeit – erscheinen geradezu anrüchig.

Emotionen überstrahlen, wie gewünscht, Argumente.

Dazu passt das übergeordnete Narrativ: Wer Kinder großzieht, tut etwas für die Zukunft der Gesellschaft – und soll dafür im Alter nicht benachteiligt werden!

Dieses Narrativ ist einleuchtend; da muss niemand ernsthaft darüber nachdenken. Daraus, und nicht aus der Qualität der Maßnahmen, speist sich der Eindruck der Plausibilität.

Die Rahmung wirkt hier doppelt gut – im Sinne der Macher: Sie adelt die Maßnahme moralisch und erschwert gleichzeitig sachliche Kritik. Wer die Konstruktion hinterfragt, riskiert, als unsensibel gegenüber den großartigen Müttern zu gelten, ganz gleich, ob sich Kritik auf systemische oder fiskalische Aspekte bezieht.

Weitere geframte politische Schlagworte
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Das Prinzip funktioniert nicht nur bei der „Mütterrente“. Ähnlich effektiv und mittlerweile routiniert wird es bei vielen anderen politischen Projekten eingesetzt – parteiübergreifend. Wir Bürger haben uns daran gewöhnt.

Einige Beispiele:

Bürgergeld
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Der Begriff verschiebt den Fokus von der Versorgung Bedürftiger („Hartz IV“) auf rechtliche Ansprüche. Die Rahmung betont Würde und Teilhabe – während Fragen zu möglicherweise falschen Anreizen, wuchernder Bürokratie, Gerechtigkeitsfragen und insbesondere nach Pflichten eher verblassen.

Pflegeoffensive
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Die Formulierung suggeriert Tatkraft und umfassende Verbesserung. Sie erzeugt das Bild entschlossenen staatlichen Handelns: Schaut her, wir tun etwas! Auch wenn einzelne Maßnahmen begrenzt oder sogar kontraproduktiv wirken, und strukturelle Probleme wie der Fachkräftemangel ungelöst bleiben.

Sicherheitspaket
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Maßnahmen, die gewohnte bürgerliche Freiheiten einschränken, erscheinen nicht als politisch zu legitimierende und streitbare Eingriffe. Das Versprechen von „Sicherheit“ überstrahlt alles Kleinklein. Die Verpackung lenkt den Blick auf das Ziel „Schutz für alle“ und verschleiert, was konkret im Paket steckt, z.B. Überwachungs-/Eingriffsmaßnahmen und gegebenenfalls zusätzliche Haushaltsbelastungen.

Wachstumschancengesetz
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Das „–chancen–“ in dem amtssprachlichen Ungetüm emotionalisiert positiv die ansonsten betont bürokratisch daherkommende Rahmung und überblendet mögliche Risiken, Zielkonflikte oder sektorale Schieflagen. Wer gegen „Wachstumschancen“ ist, wirkt rasch fortschrittsfeindlich. Das ist beabsichtigt.

Klimadividende
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Die Kopplung von Klimapolitik mit dem Begriff der Dividende erzeugt den Eindruck einer fairen Rückverteilung – die vorangehende Belastung (vor allem) der Mittelschicht unterschlagend. Die Wahrnehmung verschiebt sich Richtung „Ertrag“.

Durch diese politischen PR-Formeln entstehen Narrative, die kaum informieren, jedoch emotional sozusagen weichklopfen – und dadurch Zustimmung erzeugen, noch bevor die Sachlage geprüft oder gar verstanden ist.

Sich seines Verstandes bedienen!
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Man kann vielleicht nicht direkt sagen, dass die Bürger für dumm verkauft werden. Denn sie hätten ja durchaus die Möglichkeit, die politisch–psychologisch motivierten Kommunikationsstrategien kritisch zu durchleuchten.

Aber es werden sozusagen ur–menschliche Verhaltensweisen und kognitive Automatismen gezielt und trickreich instrumentalisiert. Dagegen anzudenken ist mühsam. Gegen–Recherchen werden einem richtig schwer gemacht.

Hat man nicht Wichtigeres zu tun?

Schon die Fragen, auf die eine politische Erzählung scheinbar die erlösende Antwort gibt, wären einer skrupulösen Revision zu unterziehen: Sind sie überhaupt „richtig“ gestellt, ja relevant? Antworten sie also auf ein tatsächliches, mich als Staatsbürger betreffendes Problem? Oder zielen sie auf Scheinprobleme, um mich abzulenken? Oder schlimmer: Auf die „Lösung“ vielleicht lediglich fremder Probleme, partikulärer Interessen?

Um auf die obigen Beispiele zurückzukommen:

  • Bürgergeld: Lohnt es sich finanziell, mehr zu arbeiten? Behindert Bürgergeld die Arbeitsaufnahme?

  • Pflegeoffensive: Wie viele Pflegekräfte fehlen (jetzt/ in fünf Jahren)? Was kostet eine zusätzliche Pflegekraft pro Maßnahme?

  • Sicherheitspaket: Welche konkreten Maßnahmen sind drin? Gibt es eine Überprüfung, ob und wie sie wirken – und zu welchem Preis für Grundrechte?

  • Wachstumschancengesetz: Wie hoch sind die Steuerausfälle je Maßnahme? Wer profitiert (kleine vs. große Betriebe)?

  • Klimadividende: Wer gewinnt/ wer verliert unterm Strich (nach Einkommen/Stadt-Land)? Bleibt das System aufkommensneutral?

Selbst scheinbar freigebig mitgelieferten Fakten, Daten und Zahlen ist keineswegs bedenkenlos zu trauen! Sie werden mit Bedacht ausgewählt, zugespitzt, kontextualisiert – oder unterschlagen, wenn sie den gewünschten Eindruck stören. Nichts gesagt ist schließlich nicht gelogen!

In der öffentlichen Kommunikation wird von interessierter Seite wenig dem Zufall überlassen. Das sollten Bürger immer im Hinterkopf halten.

Wer schon einmal – wie ich – versucht hat herauszufinden, was sinnvoll zu fragen wäre, und was demzufolge auch statistisch nachvollziehbar aufbereitet werden müsste, weiß, wovon ich rede.

Man klaube sich einmal relevante (!) und der aktuellen Politik eventuell zuwider laufende Daten zum Energiemix auf der Seite des Umweltbundesamtes zusammen (falls vorhanden; derzeit bekommt man besonders die Erfolgsmeldungen zum Ausbau alternativer Energien).

Oder man befrage die Ministeriumsseite für Landwirtschaft zum Lebensmittelkonsum (Fleischverzehr!) in Beziehung auf CO₂-Emissionen.

Es gibt durchaus von Politik nicht vollends abhängige Quellen und Statistik-Anbieter. Doch verstecken die ausgerechnet hochkarätige Statistiken hinter einer Paywall, mit Preisschildern daran, die einen interessierten Gelegenheitssucher schwindlig machen.3

Und überhaupt: Wer findet sich in Zahlenwerken zurecht? Eine übrigens wahrhaft unterschätzte Wunsch-Kompetenz für den mündigen Bürger!

Fazit
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Immer ist – und zwar im Detail! – zu fragen:

Cui bono?

Das ist lateinisch und bedeutet: Für wen ist es gut? Wem nützt es?

Und, sollte man hinzusetzen, für wen nicht? Welche Nebenwirkungen sind zu erwarten? In wessen Interesse wird dieses oder jenes eigentlich verbreitet?

Eine Kurzanleitung fürs Erste:

  • Frame finden: Welche Wörter oder Sprachbilder springen ins Auge?

  • Inhalt und Darbietung trennen: Welche Gefühle und Werte werden betont? – Worum geht es wirklich? Ist es relevant? Welche Lösung fände ich, wenn ich nachdenke, angemessen und richtig?

  • Fakten nach Möglichkeit prüfen (lassen).

Man muss sich mithin „nur“ die Mühe machen. Ganz ohne Anstrengung geht es nicht. Demokratie gelingt nicht aus der Komfortzone heraus. Wer ernstgenommen werden und eine eigene Stimme entwickeln will, kommt nicht umhin, der evolutionär angelegten Verlockung zu widerstehen, die bequemsten Pfade zu nehmen, die den geringsten Kraftaufwand erfordern.

Oder aber:

Man vertraut dem Urteil seriöser Fachleute und Institutionen: Solchen, die sich nicht leicht hinters Licht führen lassen, nicht verwandt noch verschwägert sind mit Politikern, und (!) die zugleich die nötige Expertise mitbringen.

Diese aufzuspüren ist jedoch ebenfalls kein Selbstläufer. Im Gegenteil.

Wer es nicht tut, überlässt sich jedoch anderen – und dient deren Interessen.


PS: Historischer Bezug
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It’s the economy, stupid. So lautete die berühmte, ikonisch gewordene Formulierung, die 1992 Bill Clintons Wahlkampfbotschaft (unter dessen Chefstrategen James Carville) auf den Punkt brachte. Sie war ursprünglich als Erinnerung für das interne Wahlkampfteam gedacht, wurde aber öffentlich – und dort wirksam.

Der Satz bündelte die strategische Stoßrichtung in einem einprägsamen Mantra. Und er steht seither sinnbildlich für eine kommunikative Lektion:

Sprache lenkt Fokus. Und Fokus schafft Realität.


  1. Der Text mit den verdrehten Wörtern ist ein Internet-Mythos („Typoglycemia“). Fachleute haben das mehrfach richtiggestellt. Faktenchecks (z. B. Snopes) und Erläuterungen eines Cambridge‑Forschers (Matt Davis) zeigen: Das Meme verzerrt den Stand der Forschung. Was es wirklich gibt: Untersuchungen zu Buchstabendrehern („transposed letters“), die erklären, warum wir Wörter im Zusammenhang dennoch lesen können. ↩︎

  2. Faktencheck/Einordnung (Open Access, ohne DOI; Websites: snopes.com · mrc-cbu.cam.ac.uk): Snopes: Letter Order Unimportant (Faktencheck zum Meme). Matt Davis (MRC Cognition & Brain Sciences Unit, University of Cambridge): Scrambled Words and the Cambridge University Hoax (Erklärung/Einordnung). – Primärliteratur zum Leseeffekt (Open Access, mit DOI): Lee, C. E., Pagán, A., Godwin, H. J., & Drieghe, D. (2024). Individual differences and the transposed letter effect during reading. PLOS ONE, 19(2), e0298351. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0298351 ↩︎

  3. Vgl. u.a. https://de.statista.com/accounts/individuals – Für Basiszahlen zuerst GENESIS-Online (Destatis) oder den Eurostat Data Browser nutzen; rechtliche/finanzielle Details über den Dokumente-Tab der Bundestags-Drucksachen finden; für Energie/Umwelt hilft das UBA-Energiedatenportal. ↩︎