„There is a crack in everything – that’s how the light gets in.“ – Leonard Cohen
Widersprüchlichkeit bedeutet nicht zwingend Irrtum. Im Gegenteil: Sie kann Komplexität signalisieren und zur Wahrheit führen. Cohen konnte ein Lied davon singen. Er besang, wie gerade die Risse, die Brüche, die Unvollkommenheiten, uns auf das Wesentliche aufmerksam machen.
Wer das versteht, hält Widersprüche aus. Wer es nicht kann, vereinfacht. Letzteres ist zu einem alarmierenden Problem geworden. Wir leben in einer politischen Kultur, in der Widersprüche ihrer Aufgabe nicht mehr gerecht werden. Sie irritieren nicht mehr. Sie regen nicht mehr zum Denken an. Sich im Gespräch, in öffentlicher Rede darin zu verwickeln, gilt vielen nicht einmal mehr als peinlich.
Kohärenz ist kein Kriterium in der Auseinandersetzung und wird nicht mehr verlangt.
Blinder Fleck im Offensichtlichen #
Erstaunliches geschieht. Ein Beispiel: Alice Weidel, Vorsitzende der AfD, lebt offen lesbisch mit einer Frau aus Sri Lanka – in der Schweiz.
Kann sie auch. Es wäre an sich nicht der Rede wert.
Doch sie repräsentiert eine Partei, die sich für „klassische Familienwerte“, nationale Homogenität, Deutschtum und „Remigration“ einsetzt und gegen eine angeblich „übergriffige“ Vielfaltspolitik kämpft. Die AfD ist laut Verfassungsschutzbericht eine rechtsextreme, antidemokratische, rassistische und nationalistische Partei.
Sollte man da nicht irritiert sein? Passt das zusammen?
Niemand in ihrer Partei stört sich daran. Auch nicht ihre Wähler und Mitstreiter. Die öffentliche Diskussion insgesamt bleibt seltsam matt, seltsam indifferent. Niemand macht sich die Mühe, die Widersprüche anzuprangern.
Widersprüchlichkeit als solche ist nicht das Problem, war es nie – aber die Gleichgültigkeit ihr gegenüber ist es.
Noch vor Jahren hätte man von kognitiver Dissonanz gesprochen: dem psychologischen Unbehagen, das entsteht, wenn Weltbild und Realität, Denken und Handeln auseinanderklaffen. Menschen versuchten, diese unbehagliche Spannung zu verringern – entweder indem sie ihr Verhalten änderten oder ihre Überzeugungen.
Vorbei. Heute beobachten wir mit wachsender Verblüffung: nichts von beidem. Weidels Widersprüchlichkeit – stellvertretend für viele andere – erzeugt anscheinend keine dissonante Spannung mehr. Sie irritiert nicht einmal mehr, um gar nicht erst von eigentlich fälliger Verstörung zu reden. Dabei tritt sie als Spitzen- und sogar Kanzlerkandidatin an!
Widersprüche als Waffe #
Persönliche Lebensumstände sind zur bloßen Staffage geworden, selbst wenn sie die Show konterkarieren. Nichts und niemand ruft nach so etwas wie moralischer Korrektur, nach so etwas wie Einheit von Wort und Tat.
Widersprüche brauchen daher auch nicht aufgelöst zu werden. Im Gegenteil: Sie werden – und zwar alles auf einmal – ignoriert und akzeptiert und sogar politisch funktionalisiert.
Sie stören nicht mehr, solange nur die Feindbilder stimmen; wenn Zugehörigkeit mehr zählt als argumentative Kohärenz; wenn Gegner zum Ziel von Schlägen werden wie einst beim „Hau den Lukas“. Wer „auf unserer Seite“ steht, darf alles.
Weidel ist kein Einzelfall. Es ist ein Muster. Und es betrifft nicht nur die AfD, sondern weite Teile des gegenwärtigen Populismus.
Redefreiheit wird beschworen – aber gelten soll sie nur für die eigene Meinung. Vielfalt wird gelebt, aber rhetorisch geschmäht. Die demokratische Ordnung und ihre Institutionen werden benutzt, um eben gegen diese Ordnung Stimmung zu machen.
Das ist keine Heuchelei. Es ist eine politische Strategie. Sie funktioniert, weil viele Wähler nicht auf Konsistenz achten, sondern auf Affekt. Sie möchten in ihren Gefühlen bestätigt werden. Sie erwarten emotionale Attacken, nicht Glaubwürdigkeit. Nicht, wer schlüssig argumentiert, kann punkten – sondern wer zuverlässig gegen „die anderen“ wütet.
Ein in sich stimmiges Welt- und Lebensbild ist in diesem Klima nicht erforderlich.
Die politische Öffentlichkeit hat sich daran gewöhnt; hat sich eingerichtet im Paradox.
Die einen, weil sie der Streitereien überdrüssig sind und wegschauen. Was soll man sich denn immer empören?
Die anderen, weil sie gelernt zu haben glauben, dass Widersprüche nicht nur kein Makel, sondern sogar Beweis für unabhängiges Denken und Prinzipientreue sind.
Das Ergebnis ist, wie bei Frau Weidel, die Entkopplung von persönlicher Haltung und Lebensführung vom öffentlichen Leben.
Wer sich auf Fakten beruft, verliert gegen jene, die Emotionen besser bedienen. Wer auf innere Logik setzt, wirkt spröde gegen die marktschreierische Inszenierung der Konkurrenz. Wer auf – wenigstens argumentative – Konsistenz pocht, gilt als naiv.
Die Kunst, Spannungen auszuhalten #
Worin könnte die Kur bestehen?
Was fehlt, ist jedenfalls nicht noch mehr Information. Davon gibt es viel, und die Qualität ist oft hervorragend. Aber selbst die fundiertesten Fakten prallen an der Mauer selektiver Wahrnehmung ab. Durchaus jedoch kann, wer hören will, hören, wer sehen will, sehen.
Was fehlt, ist die Fähigkeit, Widersprüche nicht zu verdrängen; ist der Wille, die Spannungen aus all den Ungereimtheiten produktiv zu machen.
Was fehlt, ist selbst hinzusehen und Realität wahrzunehmen, und zwar das, was ist, und wie es ist.
Was fehlt, ist, mit einem Wort, Ambiguitätstoleranz. Es ist die Kompetenz, Mehrdeutigkeit, Unsicherheit und innere Konflikte zu ertragen, ohne in vermeintliche „Wahrheiten“ zu flüchten.
Sie ist unbequem, diese Ambiguitätstoleranz, sperrig als Begriff schon, viel mehr noch als gelebte Haltung. Sie erfordert Bildung, Zeit, Selbstreflexion.
Aber sie ist die Voraussetzung für jede lebendige, den Menschen, und zwar allen Menschen, zugewandte Demokratie.
Hinsehen statt wegsehen! #
Wer keine Ambiguität erträgt, wer keinen inneren Widerspruch wahrhaben will und sich vom Licht in den Rissen geblendet fühlt, braucht etwas, um es abzudecken. Feindbilder eignen sich hierzu. Sie helfen, das gewohnte Weltbild zu stabilisieren, indem sie die Spannung nach außen leiten. Ideologische Angebote als Fallnetze tun ein Übriges. Denn die fortgesetzte Leugnung von Dissonanzen führt zu einem Verlangen nach Ordnung um jeden Preis.
Die Gefahr heute ist nicht, dass Widersprüche überhandnehmen – sondern dass sie nichts mehr auslösen außer Verdrängung.
Weidel ist ein deutliches Beispiel: Sie bekämpft öffentlich mit heftiger rhetorischer Vehemenz, was sie privat lebt – und niemand in ihrer Partei, ihrer Wählerschaft oder der allgemeinen Öffentlichkeit macht ihr daraus einen Vorwurf. Sie muss sich nicht rechtfertigen. Sie muss keine guten Gründe finden. Warum auch? Solange ihr Spiel funktioniert, hat sie keine Not dazu. Und genau darin liegt die eigentliche Bedrohung.
Denn wenn eine Gesellschaft offene Widersprüche nicht einmal wahrnimmt, geschweige denn korrigiert, ja, sie sogar in ihr Tun integriert; wenn sie ignorant reagiert auf das Licht aus den Ritzen – dann erlischt auf einmal, wovon Cohen sang, und es könnte wieder verdammt finster werden. Wir hatten das schon einmal.
Dann ist „a crack in everything“ nicht mehr die mögliche Eintrittsstelle für Wahrheit – sondern das Licht daraus dient nur noch als Restbeleuchtung für eine in Dunkelheit getauchte politische Bühne.
Vielleicht sollten wir heute, getreu dem Aufruf Willy Brandts, nicht nur mehr Demokratie, sondern mehr kognitive Dissonanz wagen.
Cohen hatte recht: In allem ist ein Riss. Aber auch viele Risse reichen nicht, wenn wir die Botschaft des Lichts nicht mehr verstehen wollen.
Schauen wir hin! Lassen wir uns verstören!
Ring the bells that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack, a crack in everything
That’s how the light gets in.