Einleitung #
Gesellschaftliche Ungleichheit als solche, sogar wenn sie extrem sich zeigt, ist keine neue Erscheinung. Sie ist weder wegzudenken noch, das mag überraschen, wegzuwünschen.
Ungleichheit ist kein Makel, sondern eine Konstante des Lebens – und gerade deshalb kein Problem, das verschwindet. Sondern eines, das nur seine Form ändert.
Wenn wir heute materielle und politische Ungleichheit in den Vordergrund rücken, ist das nur eine ihrer Ausprägungen – allerdings diejenige, die Zivilisationen am stärksten formt. Und spaltet. Nämlich dann, wenn die Macht über Ressourcen weitgehend nurmehr bei den größten Vermögen liegt – und diese konzentriert sind in wenigen Händen. Wodurch Willkür, Maßlosigkeit und Machtmissbrauch überhand nehmen.
Wenn ich sage, Ungleichheit „muss sein“, meine ich ihre funktionale Seite. Ohne Differenzierung wären Zivilisationen nicht möglich. Komplexe Arbeitsteilung, Spezialisierung und Verantwortung benötigen und erzeugen notwendigerweise unterschiedliche Zugänge zu Aufgaben, Rollen und Ressourcen.
Doch in unseren Tagen stößt die Ungleichverteilung an ihre Grenzen. Sie bringt systemische Dysfunktionalität mit sich. Das Wachstum, das in den Jahrzehnten seit der letzten großen Zerstörung breitere Schichten ebenfalls mit Wohlstand versorgte und in Maßen teilhaben ließ, scheint die inhärente, lange im Hintergrund sich bildende Schieflage nicht mehr kompensieren zu können.
Während Ungleichverteilung also „sein muss“, gilt das nicht im gleichen Maß für Ungerechtigkeit. Letztere wird weniger im Exzess ertragen. Wer sich krummlegt, um dem Ganzen zu dienen, toleriert überbordende Anmaßung und Fehlverhalten nicht grenzenlos, schon gar nicht, wenn diese zur Verhöhnung werden. Menschen ordnen sich unter, wollen dafür aber nicht lächerlich gemacht werden. Sie fordern Achtung, Würde und faire Behandlung von denen ein, die „oben“ schwimmen und machen können, was ihnen gerade einfällt.
Daraus folgt: Ungleichheit braucht akzeptable Grenzen. Jenseits einer Schwelle beschädigt sie Gemeinwohl und die Freiheit des Einzelnen, sein Leben zu leben.
Zur begrifflichen Klarheit verwende ich im Folgenden „Ungleichheit“ für funktionale Differenz und spreche von „Ungerechtigkeit“, wo Ungleichheit die Grenze des Akzeptablen überschreitet – wobei Gerechtigkeit hier begrifflich nicht im Mittelpunkt steht. Die Unterscheidung zwischen „funktional notwendig“ versus „normativ zu begrenzen“ leitet jedoch den Text.
Mein Kompass: Funktionale Ungleichheit ist akzeptabel, solange sie Zivilität trägt. Destruktive Konzentration von Vermögen und Macht hingegen ist zu begrenzen. In meinen Lösungsvorschlägen genießen Ordnungspolitik, Transparenz und kooperative Gemeinwohl–Governance Priorität vor bloßer Umverteilung.
Schon das Leben selbst verteilt ungleich: Kräfte, Fähigkeiten, Begabungen, Glück oder Scheitern. Auch Armut und Reichtum. Man sagt zwar: Die oder jene seien von Armut „betroffen“. Doch so ungewohnt es klingt: Umgekehrt ist es ebenso! Reichtum „trifft“ die einen so wie Armut die anderen. Es ist derselbe Zufall, dasselbe Glück oder Pech. Der Großteil der reichen Personen wird reich geboren oder ist/wird reich durch Familienbande.
Mit Sesshaftigkeit, Siedlungsbildung und Arbeitsteilung begannen Menschen Vorräte zu akkumulieren. Klagen über zu große, sich immerzu vertiefende soziale Unterschiede zwischen Besitzenden und Besitzlosen begleiten seither diesen seit rund 10.000 Jahren andauernden Prozess.
Denn wo sich Ressourcen, Macht, Wissen konzentrieren, entstehen Privilegien; es entstehen Gruppen, denen es signifikant besser ergeht als einem großen Rest.
Und diese Privilegien halten sich. Lange. Auch werden sie mit Zähnen und Klauen verteidigt, falls es sein muss. Was keine bloße Metapher ist, sondern eine anthropologische Konstante, deren systemische Wirkung schon der biblische Prophet Hesekiel erkannte:
„Ihre Fürsten sind darin wie reißende Wölfe, Blut zu vergießen und Seelen zu verderben um ihres Gewinnes willen" (Hes 22,27).1
Das Erschreckende: Wölfe jagen im Rudel, strategisch, organisiert. Die Verteidigung von Privilegien ist kein individueller Akt, sondern ein kollektives Projekt – getragen von sogenannten Eliten,2 legitimiert durch Institutionen, verinnerlicht durch Kultur. Und es funktioniert, solange die Kräfte der Privilegierten reichen.
Doch so weit kommt es selten. Der Zusammenbruch bleibt die Ausnahme. Gewöhnlich trotzen Privilegierte beinahe mit Leichtigkeit sowohl moralischen Appellen als auch mehr oder weniger brachialen Umverteilungsversuchen.
Denn: Die Unterprivilegierten spielen mit! Nicht selten signalisieren sie sogar Einverständnis mit einer hierarchisch-pyramidalen Ordnung – was wiederum auf eine anthropologische Komponente hindeutet. In diese Richtung argumentiert zum Beispiel der Philosoph Hanno Sauer.3
Sauer zeigt in seiner Philosophie der Ungleichheit (2024), wie das funktioniert: Das System selbst reproduziert Privilegien durch institutionelle Trägheit, kulturelle Codes und Netzwerkeffekte.4 Privilegierte müssen ihre Position oft über Generationen nicht aktiv schützen. Sie wird durch die gesellschaftliche Kultur erhalten, in der und mit der alle leben. Mehr noch: Privilegien erzeugen eine eigene moralische Grammatik („Ich habe hart gearbeitet“, „Jeder kann es schaffen“), die strukturelle Vorteile tendenziell verschleiert oder als individuellen Verdienst umdeutet.
Solche Erkenntnisse seien allzu eifrigen Umverteilern ins Stammbuch geschrieben. Der Robin-Hood-Ansatz: Den einen nehmen, um es anderen zu geben, löst das Problem nicht per se. Er greift zu kurz. Vermögenssteuern bringen das Heil nicht.5
Denn Steuern nehmen nur und rufen Ablehnung hervor. Demgegenüber könnte Gemeinwohl-Governance ein positives Signal senden („Ko‑Gestaltung“). Es würde „die Reichen“ beteiligen und einbinden in das Bemühen, allen, letztlich auch ihnen selbst, einen Gefallen zu tun. Das erhöhte die Akzeptanz, nutzt sogar die Expertise und Netzwerke der Privilegierten, schafft Legitimität. Der Maßstab wäre:
Funktionale Ungleichheit: „Ja, akzeptiert!“, auch wenn es zähneknirschend geschieht.
Destruktive, das Gemeinwohl massiv schädigende Konzentration von Vermögen dagegen: „Nein!“
Steuern behielten ihren Platz, aber Gemeinwohl-Governance wäre der Hebel.
Historische Erfahrung – wie Walter Scheidel in The Great Leveler belegt – scheint dem Recht zu geben.6 Ungleichheit vertiefte sich immer solange, bis sie die ein System aufrecht erhaltende Strukturen sprengte und sozial untragbar wurde. Oder externe Schocks eine Umstrukturierung erzwangen. Disruptiv zog dann ein „großer Gleichmacher“: Eroberung, Krieg, Hunger und Tod (durch Seuchen) durch die Lande.
Es handelt sich um eine sehr alte Menschheitserfahrung. Nicht zufällig erinnert dieser Great Leveller an die vier apokalyptischen Reiter der Bibel.7 Spätestens mit deren Erscheinen trifft es potentiell alle, ohne Ansehen der Person und des Standes, furchtbar und existentiell.
In einer wachstumsfixierten und demzufolge kreditgetriebenen, sprich: aus der Zukunft schöpfenden Zivilisation wie der unseren sind Ungleichheit und daraus erwachsende Privilegien erst recht kein Unfall, sondern Betriebszustand. Gerade wir könnten derzeit ohne sie als Zivilisation gar nicht leben.
Überleben können wir mit ihr aber auch nicht mehr. Wir scheinen auf eine Grenzerfahrung zuzusteuern, wie sie die Menschheit noch nicht erlebt hat. Es ächzt und stöhnt schon im gesellschaftlichen Gebälk. Unheilverkündendes erscheint an den Wänden: Soziale Unruhen, Vertreibung und Migration, Klimawandel, Artensterben, um einige zu benennen.
Ich habe Zusammenhänge in anderen Texten schon versucht zu entfalten. Wer mag, lese.
Meine Grundthese: Ohne ebenso radikale wie überlegte und strukturell-systemisch wirksame Eingriffe wird sich die Konzentration von Vermögen und Entscheidungsmacht fortsetzen und mit ihr die Spannungen zunehmen – beschleunigt sogar und schneller, als jede bloß umverteilende Korrektur greifen oder der Fiskus zulangen kann. Zum Unwohl aller.
Ich möchte noch deutlicher werden: Ein Abbau der Extreme kann meines Erachtens nur mit den Vermögenden zusammen, mit ihrem grundsätzlichen, wenn auch wohl zähneknirschenden Einverständnis, nicht gegen sie dauerhaft gelingen. Denn die Macht ist sozusagen mit ihnen und dagegen können die Ohnmächtigen nur um den Preis von Chaos an. Aber dann verlören alle. Denn in letzterem ginge für unbestimmbare Zeit auch jegliche Kontrolle unter.
Exponentielle Steigerungen durch Kapitalrenditen, Zinseszins, eine “buy now, pay later”–Mentalität: Das sind die Komponenten einer Wachstumsgesellschaft.
Sie treffen zudem auf anthropologische Konstanten wie Egoismus, Sauers Klassismus, Opportunisten, das kulturanthropologisch schon lange diskutierte Trickster-Verhalten, ökonomische Bedürfnisorientierung, Verführbarkeit und institutionelle Kräfte in Recht, Politik und den Märkten.
Zusammen erzeugt das eine Dynamik, die sich selbst stabilisiert – solange die Profiteure mächtig genug bleiben und die Benachteiligten stillhalten. Doch sobald diese Balance kippt, droht Instabilität. Daher gilt: Alle müssen sich beteiligen – diejenigen „oben“, indem sie soviel abzugeben lernen, dass das System nicht kippt; am besten sozusagen „freiwillig gezwungen“. Die anderen „unten“, indem sie überzogene, da unter allen Umständen uneinlösbare Ansprüche an Gleichverteilung zurückstellen.
Die Bibelautoren vor zweieinhalbtausend Jahren haben Propheten ins Rampenlicht gerückt, die anprangerten, aufrüttelten und auf Veränderung drängten. Mit bescheidenem Erfolg, wie man weiß.
Auch den Propheten unserer Tage scheint kein durchschlagender Erfolg beschieden – außer berühmt und sprichwörtlich zu werden. Donella (Dana) und Dennis L. Meadows samt ihrem Team etwa, deren Modellierungen vor mehr als fünfzig Jahren die Kipprisiken exponentiellen Wachstums allen vor Augen führten, wären hervorzuheben. Ihre Studie „Die Grenzen des Wachstums“ rüttelte auf. 8 Doch trotz größter öffentlicher Aufmerksamkeit: Die Wirkung blieb unter dem Notwendigen. Die Wachstumsideologie war stärker. Die entfachte Dynamik droht, technologisch verstärkt, politischer Kontrolle vollends zu entgleiten.
Vielleicht, rede ich mir ein, könnte die Offenlegung der „Mechanik" der Ungleichheit helfen, einigen die Augen zu öffnen – und zu Bemühungen führen, die Aus- und Nebenwirkungen immerzu weiter getriebenen Wachstums nachhaltig zu begrenzen, und zwar ohne auf Wunder – auch keine technologischen! – oder einen plötzlichen moralischen Sinneswandel oder das Verschwinden menschlicher Verhaltenskonstanten zu setzen. (Die Lösung für alles kann ich natürlich ebenso wenig wie andere bieten.)
Zunächst skizziere ich historische und anthropologische Ursachen von Ungleichheit, dann die exponentielle Finanzmechanik der Konzentration, anschließend die Grenzen moralischer Appelle und leite am Ende zur Ordnungspolitik über – mit konkreten Instrumenten und Messpunkten.
Allerdings, das sollte klar sein: Es bleibt politisch ein sehr, sehr dickes Brett zu bohren. Vergleichbar dem, das für die Adaption an den Klimawandel oder das Aufhalten des Artensterbens zu bearbeiten ist. Alle – ja schon wieder: Alle! – müssten am gleichen Strang ziehen lernen – global! Und das ist viel verlangt.
Nicht umsonst sind wir derzeit immer noch sehr weit von echten Lösungen entfernt und mehr: Wir scheinen gerade das Zurückschwingen des Pendels zu erleben. Man leugnet einfach die Probleme. Als ob schließlich nicht sein könne, was nicht sein darf.
Warum dann doch gerade jetzt?
Ich sehe eine Dringlichkeit.
Wir sind noch nicht ganz in der Mitte des 21. Jahrhunderts angelangt, dem in „Grenzen des Wachstums“ prophezeiten Zeitpunkt des Zusammenbruchs. Wir erleben aber ein Jahrzehnt, in dem das Durcheinander beschleunigt zunimmt, offen ersichtlich für alle, die nicht vollständig am Drei-Affen-Syndrom leiden und sich abwenden.9 Wir erleben, dass viel zu viele Menschen immer weniger Möglichkeiten erhalten, ein menschenwürdiges Leben zu gestalten, geschweige die Chance bekommen, „nach oben“ zu gelangen. Nicht durch Arbeit, nicht durch Talent, nicht einmal mit Glück.
In diesem Text frage ich nicht primär nach individuellen Schicksalen — wer sie sehen will, sieht sie, täglich und schmerzhaft — sondern nach den systemischen Gründen, warum Ungleichheit persistiert, warum Privilegien sich verhärten anstatt zu verschwinden, und warum daher „Wohlstand für alle“ ein immer weniger haltbares, ja verlogenes Versprechen ist.
Warum so ernüchtert?
Wer sich vor allem von Empörung oder Neid oder anderen Gefühlen antreiben lässt, wie, scheint mir, im Grunde Umverteiler, wird den Mechanismus nicht durchschauen.
Wer hingegen sich ausschließlich mit analytischem Blick begnügt, scheinbar von außen, läuft leicht Gefahr, zynisch zu werden.
Nur Anerkennung der Realität macht handlungsfähig.
Drei Aspekte helfen mir bei der Einordnung:
- Die Persistenz von gesellschaftlichen Privilegien:
Einmal etablierte Vorteile (Vermögen, Zugänge zu Ressourcen, politischer Einfluss) vererben und verfestigen sich durch rechtliche, ökonomische und kulturelle Strukturen. Das aufzubrechen gelingt kaum mehr, es sei denn, einer (oder mehrere) der apokalyptischen Reiter machen sich auf, die Verhältnisse umzustülpen. Denn vor allem katastrophale Störungen haben, wie angedeutet, historisch gesehen nennenswerte Umverteilungen bewirkt. Die aber kann sich niemand im Ernst wünschen. - Die Kluft zwischen Denken und Tun und somit die Schwäche moralischer Herangehensweise:
Menschen tun einfach kaum einmal, was sie für zu tun richtig hielten, wenn sie ernsthaft und ehrlich nachdächten. Auch ethisches Reflektieren ist eine Art Privileg — nicht nur wegen der nötigen Bildung. Denn es bedarf gewisser Umstände und Talente, um eigenständig denken zu können und es dann auch zu tun.
Die meisten hingegen folgen Verheißungen: Politikern, die Lösungen versprechen; interessengeleiteter Werbung; Heilsbringern. Diese Verführbarkeit ist schichtübergreifend; Bildung und Wohlstand immunisieren nicht automatisch gegen Wunsch- und Geltungsorientierung. Daraus folgt: Moralische Appelle alleine werden die Schere ebenso wenig schließen wie bloße Umverteilung. Würde man den Armen so viel geben, dass sie reich wären, verhielten sie sich schon bald nicht anders als Reiche es eben tun. Wenigstens darin sind sich alle gleich. - Politisch müsste die Orientierung an Gemeinwohl und Ganzheitlichkeit größeres Gewicht erhalten.
Das in die Verfassungen zu schreiben, war ein erster wichtiger Schritt. Weitere müssten folgen. Das heißt: Wenn wir Ungleichheit funktional halten wollen, müssen wir Institutionen und Anreize reformieren und nicht bei einzelnen Maßnahmen oder individuellen Haltungen stehenbleiben. Nötig sind systemische Hebel, ohne oder allenfalls mit sehr dosierter Robin-Hood-Umverteilungsrhetorik. Gerechtigkeitsaspekte bleiben wichtig! Aber in erster Linie müssen Zivilisationen funktionsfähig gehalten werden. Worauf es deshalb hinauslaufen müsste:
Ehrliche Preise, die alle relevanten Kosten abdecken; mehr Einblick in Eigentumsverhältnisse, Zahlungsströme und Gegenleistungen; eine stärker gemeinwohlorientierte Regulierung der Finanzmärkte; Zugang zu Bildung und Infrastruktur. Das ergänzt um strukturierte Aktivierung großer Vermögen fürs Gemeinwohl: Zum Beispiel durch Public‑Interest‑Shares bei sehr großen Erbschaften/Konzernen, durch Steward‑Ownership/Stiftungsunternehmen, durch Mitarbeiterkapital‑Mindestquoten mit Sperrfristen, durch steuerliche Impact‑Gutschriften mit unabhängiger Wirkungsmessung – um nur einige Ideen aufzugreifen. Weiter unten gehe ich etwas näher darauf ein.
Leider formuliere ich vieles im Konjunktiv. Denn auch ich habe selbstverständlich nicht die Patentrezepte für alles.
Historische und anthropologische Wurzeln #
Wer Ungleichheit verstehen will, muss ihre Ursprünge ergründen. Woher kommt sie? Wieso scheint sie jegliche Zivilisation zu begleiten? Ja, zu bedingen!
Mit der Sesshaftigkeit begann der lange Weg der Differenzierung. Die Kontrolle über Ressourcen – Land, Wasser, Saatgut – ermöglichte erstmals systematische Akkumulation. Einmal angelegte Vorräte mussten geschützt, verwaltet, verteilt werden. Was als praktische Notwendigkeit begann, verfestigte sich zu Hierarchien. Die Menschen ordneten sich ein und fanden darin ihren Platz. Zivilisationen in der Form immer komplexerer Verbände entwickelten sich.
Egalitäre Gegenmodelle #
Aber war dieser Weg wirklich unvermeidlich?
David Graeber und David Wengrow haben in The Dawn of Everything (2021) eine Gegenthese formuliert: Ungleichheit ist keine Naturnotwendigkeit, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen. Sie belegen ihre These archäologisch, etwa durch Beispiele wie Çatalhöyük in der heutigen Türkei – eine neolithische Stadt mit mehreren tausend Bewohnern, ohne Paläste, ohne Prunkgräber, ohne erkennbare Eliten–Phänomene. Alle Häuser ähnlich groß, keine ersichtliche monumentale Architektur der Macht. Und: Sie hatte offenbar über mehr als tausend Jahre Bestand.10
Auch andere Gesellschaften experimentierten mit egalitären Formen, weltweit: Manche nordamerikanischen Mound-Kulturen wechselten bewusst zwischen hierarchischen und egalitären Phasen. Indigene Konföderationen wie die Irokesen entwickelten komplexe politische Strukturen ohne ökonomische Dominanz. Die Indus-Kultur baute hochentwickelte Städte – ohne auf Herrscher zugeschnitten gewesen zu sein.
Es gab also Alternativen. Sie funktionierten. Über Jahrhunderte, teils Jahrtausende.
Sie setzten sich aber offensichtlich nicht flächendeckend durch.
Aber weiter: Wenn wir Zivilisation nicht nur im Städtebau verwirklicht betrachten, sondern als komplexe kulturelle Organisation – mit Rechtsnormen, Ritualen, Genealogien, Handelsnetzwerken, politischen Strukturen –, dann waren auch nomadische Gesellschaften durchaus zivilisatorisch, obwohl keine übermäßigen Hierarchien institutionell ausgeprägt wurden.
Sie erscheinen als tendenziell egalitär, weil:
- Mobilität Akkumulation verhindert.
- direkte soziale Kontrolle möglich bleibt.
- die „Exit-Option" (Abwanderung) die Zentraliserung, gar Personalisierung von Macht erschwert.
Doch selbst nomadische Gesellschaften teilen das Schicksal egalitärer Ansätze; auch sie kippen anscheinend unter imperialer Skalierung in Hierarchie.
Unter Temüjin, bekannter als Dschingis Khan, wurden lockere Stammesverbände militärisch in eine hierarchische, auf die Herrscherperson zugespitzte Dezimalorganisation überführt, Entscheidungen im Kurultai11 (Fürstenversammlung) gebündelt und Tribut- und Verwaltungsstrukturen aufgebaut. Ergebnis: deutlich mehr Stratifikation und Zentralmacht – ein paradigmatisches Beispiel dafür, dass Expansion Komplexität und damit Ungleichheit zu erzwingen scheint.
Warum also führte der „Hauptstrom" der Geschichte zu stratifizierten Gesellschaften, in denen Komplexität mit Hierarchie Hand in Hand ging?
Die Antwort liegt wohl in der Skalierung.
Skalierung war ausschlaggebend #
Egalitäre Gesellschaften funktionierten dort, wo Menschen persönlich vernetzt waren: in überschaubaren Gruppen, wo man sich kannte oder jedenfalls noch kennen konnte, wenn man es wollte; wo Scham und Rituale soziale Kontrolle ermöglichten; wo Überschüsse rituell verteilt oder gar nicht erst akkumuliert wurden. Oder wo es gelang, externe Gründe für Ungleichheit den Menschen glaubhaft zu vermitteln („gottgewollte Ordnung“).
Doch sobald Gesellschaften wuchsen – zu Städten, zu Staaten, zu Imperien –, änderte sich die Dynamik:
- Anonymität ersetzte persönliche Beziehung
- Institutionen ersetzten direkte Kontrolle
- Überschüsse wurden streitbar
- Äußerer Druck (Krieg, Expansion) begünstigte Hierarchie
Gleichheit war nicht unmöglich – aber sie erwies sich als umso fragiler, desto komplexer das Zusammenleben wurde. Hierarchische Systeme erwiesen sich als effizienter, skalierbarer, durchsetzungsfähiger. Nicht weil sie menschlicher, sondern weil sie strukturell überlegen waren.
All das bestätigt damit die These: Ungleichheit ist nicht politisch zwingend; es gab egalitäre Ansätze. Aber Gleichheit scheint systemisch unwahrscheinlicher bei Sesshaftigkeit, Akkumulation und, anscheinend vor allem, Komplexität und Skalierung.
Die Frage: „Welche strukturellen Bedingungen begünstigen Ungleichheit?“ führt also anscheinend immer zu den Phänomenen der Sesshaftigkeit und Komplexität.
Anthropologische Konstanten auf Individualebene #
Dennoch, scheint mir, ist das Phänomen der Ungleichheit nicht allein ursächlich auf sich verbreitende Sesshaftigkeit zurückzuführen, sondern wurzelt tiefer, nämlich auch in verbreiteten menschlichen Eigenschaften.
Anhand vierer wiederkehrender Figuren in jeder Gesellschaft und einem bekannten Brüderpaar aus der griechischen Mythologie möchte ich daran erinnern:
Das strategische Subjekt - Oder der Pursuit of Happiness – #
Die amerikanische Declaration of Independence spricht vom “pursuit of Happiness” – dem Streben nach Lebensglück. Menschen verfolgen Ziele, handeln strategisch, maximieren ihren Vorteil. Das ist nicht verwerflich, sondern konstitutiv für menschliches Handeln.
Aber: Im Zweifel geschieht das auf Kosten anderer. Nicht unbedingt aus Bosheit – sondern aus der Logik begrenzter Ressourcen und unbegrenzter Wünsche.
Der Trittbrettfahrer – Das opportunistische Wesen #
Mancur Olson identifizierte ökonomisch und Robert Trivers in seiner evolutionsbiologischen Forschung das fundamentale Problem des „free-riding“: Individuen, die von kollektiver Kooperation profitieren, ohne selbst beizutragen.12
Sie nutzen Normen instrumentell – befolgen sie, wenn sie ihnen nützen; umgehen sie, falls nicht und wenn sie damit davonkommen.
In kleinen Gruppen kann soziale Kontrolle (Scham, Ausschluss, Sanktion) solches Verhalten begrenzen. In anonymen, großen Gesellschaften versagt dieser Mechanismus. Trittbrettfahrer werden strukturell begünstigt.
Später wurden allerdings von Elinor Ostrom diese Ansichten relativiert, präzisiert und kontextualisiert. Sie zeigte, dass funktionierende Kooperation ohne zentralen Zwang oder moralische Überhöhung möglich ist – sofern klare, lokal verankerte Regeln bestehen.13
Ihre empirischen (!) Untersuchungen widersprechen der alten Dichotomie von Markt und Staat: Gemeinschaften können kollektive Ressourcen eigenständig verwalten, wenn sie anerkannte Normen, Überwachung und abgestufte Sanktionen etablieren.
Solche „bottom-up“-Institutionen sind Beispiele modern gefasster praktischer Vernunft – in Aktion, nicht in Predigtform. Sie beweisen, dass moralische Einsicht wünschenswert ist, aber nicht notwendig, solange Strukturen Kooperation belohnen.
Der Trickster – Die Figur der Ambivalenz #
In den Mythologien aller Kulturen taucht eine dritte Figur auf: der Trickster.14 Loki in der nordischen Mythologie, Hermes bei den Griechen, Anansi in westafrikanischen Erzählungen, Coyote in indigenen nordamerikanischen Traditionen, Eulenspiegel im europäischen Mittelalter. Der Trickster erscheint kulturübergreifend. Es sind Gestalten, die Grenzen austesten, Regeln brechen, Chaos stiften – und Veränderungen anstoßen.
Gemeinsam ist den Deutungen die Erkenntnis, dass der Trickster keine pathologische Abweichung darstellt, sondern eine anthropologische Konstante – eine Figur, die Systeme testet, Erstarrung verhindert, aber auch Instabilität erzeugt. Sie steht für Wandel.
In modernen, anonymen Gesellschaften verliert die Trickster-Energie ihre rituell gebundene, gemeinschaftlich kanalisierte Form und kann in destruktive Muster umschlagen: aus spielerischer Subversion wird systematische Täuschung, aus kreativem Regelbruch wird opportunistische Ausbeutung von Grauzonen.
Der Trickster verkörpert ein anthropologisches Grundmuster: den Drang zur Subversivität – aus Spieltrieb, Neugier, Rebellion, Überlebenswillen, Kreativität.
Jedoch: Der Trickster wirkt mehrdimensional. Anders als der Trittbrettfahrer ist der Trickster nicht rein eigennützig. Er fordert erstarrte Strukturen heraus, schafft aber auch zuweilen neue Möglichkeitsräume. Er stabilisiert und destabilisiert zugleich. Nur in unübersichtlichen, anonymen Systemen mutiert kreative Subversion gelegentlich zu systematischem Missbrauch.
Beide Figuren erinnern uns daran, dass soziale Regelsysteme nie lückenlos funktionieren – sei es aus strategischem Kalkül oder aus dem fundamentalen Bedürfnis, etablierte Grenzen zu überschreiten.
Die vierte Figur – Der/die grundlos Böse #
Obwohl in idealisierten Moraltheorien oft ausgeblendet und überhaupt gerne übersehen: Es gibt Menschen ohne gelebte Empathie, ohne Fairness, ohne moralische Rücksicht und sogar welche, die durchaus mit Empathie ausgestattet sind, doch nur, um diese manipulativ einzusetzen. Man kennt sie als „die Bösen“.
Sie sind keine Opportunisten, keine Trickster, – sondern Menschen, die einfach nehmen, was sie wollen, wenn man sie nicht stoppt. Gangster, Sozio– und Psychopathen, Sadisten, Narzissten – Menschen, die Albert Camus’ Logik nicht erreicht: dass aus der individuellen Revolte gegen das Absurde die Anerkennung der Würde aller folgen müsste.
Sie verstehen vielleicht diese Logik. Aber sie bedeutet ihnen nichts.
Psychologische Forschung (Robert Hare, James Fallon) zeigt: Solche Menschen können moralische Begriffe verbal beherrschen, ohne sie jedoch innerlich zu erleben. Sie wissen, was “falsch” ist – aber es berührt sie nicht.15
In chaotischen Zeiten gelangen diese „Typen" eher „nach oben" – nicht trotz, sondern wegen ihrer Skrupellosigkeit. Sie versprechen Ordnung, Stärke, Eindeutigkeit. Und viele folgen ihnen, zum Beispiel, weil Angst und Umstände dazu treiben.
Prometheus und Epimetheus – Vorausdenken gegen Nachdenken #
Ein weiterer Aspekt: Menschen handeln überwiegend nicht rational. Nicht einmal dann, wenn ihre eigenen Interessen auf dem Spiel stehen. Das gilt insbesondere in Bezug auf andere, im Politischen.
Die griechische Mythologie bietet ein Sinnbild für diese Konstellation: Prometheus und Epimetheus, die ungleichen Brüder. Der erste, der Feuer– und Kulturbringer, denkt voraus, plant, antizipiert Konsequenzen; der zweite – der Nachbedenkende – handelt impulsiv, kurzfristig, getrieben.16
Will sagen: Beide Tendenzen existieren in uns – und in unseren sozialen Systemen. Die Fähigkeit zur vorausschauenden Vernunft wird beständig unterlaufen von unmittelbaren Anreizen, situativen Verlockungen, emotionalen Triebkräften.
Auch wohlmeinende Gesellschaftsentwürfe müssen sich an der Realität messen lassen. Allzu idealistische Hoffnungen übersehen die epimetheische Seite unserer Natur. Menschen handeln regelmäßig, bevor sie gewissenhaft denken! 17
Michael Tomasello, langjähriger Direktor der Abteilung Vergleichende Entwicklungspsychologie am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig und heute Professor an der Duke University, bestätigt diese Diagnose aus entwicklungsgeschichtlicher Perspektive:18 Menschen sind zwar im Allgemeinen, als Spezies, zur Kooperation fähig – aber das gilt nicht grenzenlos.
Wir kooperieren am besten in überschaubaren Gruppen, mit jenen, die wir als „zu uns gehörig“ erkennen. Das wundert nicht. Unsere moralischen Intuitionen entstanden für Stammesgruppen von 30 bis 150 Personen – nicht für anonyme Märkte, globale Lieferketten oder Mega–Millionenstädte. Sie sind nicht kalibriert für abstrakte Prinzipien, langfristige Folgen, verschlungene Aus– und Nebenwirkungen oder gar eine Weltgesellschaft.
Zwischenfazit: Ungleichheit als emergentes Muster #
Evolutionäre Dispositionen bilden den Resonanzraum, in dem strukturelle Ungleichheit gedeiht. Nicht primär aus Bosheit oder Verschwörung, auch nicht durch “Leistung” oder “Verdienst” – sondern als emergentes Muster aus Millionen Einzelentscheidungen, die nicht selten auf ebenso kurzsichtige wie kurzfristige Vorteile getrimmt sind, während langfristige Folgen im Nebel der Zukunft verschwinden.
Die Diagnose lautet:
- Sesshaftigkeit + Akkumulation schaffen die Bedingung für dauerhafte Ungleichheit
- Skalierung + Anonymität unterlaufen soziale Kontrolle
- (Mindestens) vier anthropologische Konstanten (strategisches Eigeninteresse, Trittbrettfahren, Trickster-Dynamik, empathielose Machtmenschen) treiben die Spreizung voran
- Begrenzt rationales bis sorglos irrationales Verhalten und tribal geprägte Moral verhindern wirksame Gegensteuerung
Ungleichheit ist damit nicht einfach ein sozialtechnisches Problem, das sich durch den richtigen ökonomischen Mechanismus – Vermögenssteuer! – beheben ließe. Sie ist in den Fundamenten menschlicher Sozialität verankert, vielfach verstärkt durch die Größe moderner Gesellschaften und die Anonymität ihrer Interaktionen.
Das bedeutet nicht, dass wir sie und die resultierenden Ungerechtigkeiten fatalistisch hinnehmen müssen – wohl aber, dass ihre Eindämmung mehr erfordert als moralische Appelle, einzelne Gesetze oder bloße Umverteilung.
Hinzu kommt: In wachstumsgetriebenen Gesellschaften wird die “natürliche” Ungleichheit noch einmal außerordentlich verschärft. Wie genau – das zeigt der nächste Abschnitt.
Der exponentielle Mechanismus #
Akkumulationslogik (Matthäus‑Effekt) #
„Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.“19
Ökonomische Ungleichheit wächst in einer Wachstumsgesellschaft nicht linear, sondern exponentiell. Damit folgt sie einem unerbittlichen Gesetz der Mathematik. Wo sich Vermögen akkumulieren kann, ohne dass es wirksame institutionelle Aderlässe gibt, erhöht sich unaufhaltsam der Druck. Zinseszins, Kapitalrendite, Skaleneffekte: verschiedene Namen für denselben unterliegenden Mechanismus.
Die Wachstumslogik, die angeblich „Wohlstand für alle“ verbürgt, ist dieselbe, die ihn ungleich verteilt.
Mit einiger öffentlicher Wirkung hat zuletzt der Ökonom Thomas Piketty gezeigt, dass die durchschnittliche Kapitalrendite dauerhaft über der Wachstumsrate der Volkswirtschaft liegt (r > g).20
Diese unscheinbare Ungleichung wirkt wie ein geheimer Motor: Wer Kapital besitzt, sieht es wachsen, wer keines hat, fällt relativ zurück.
Das beginnt schon im Alltäglichen. In vielen Preisen, Mieten und öffentlichen Budgets steckt ein Finanzierungszinsanteil – und somit eine unsichtbare Transferleistung von unten nach oben. Ich persönlich wurde durch einen ökonomischen Dilettanten, wie ich selbst einer bin,21 nämlich Helmut Creutz, darauf aufmerksam.22
Es entsteht eine stille Umverteilung, täglich, global, gesetzmäßig. Sie braucht keine Verschwörung, keine Böswilligkeit, nur Rendite und Zeit.
Während Arbeit „nur“ Einkommen schafft, schafft Kapital Einkommen und neues Kapital. Ein System, das auf Zins und Rendite beruht, verschiebt den Wohlstand stetig nach „oben“ – auch dann, wenn alle Akteure rational und legal und sogar wenn sie moralisch korrekt handeln.23
Die Wachstumsfalle: Warum mehr Wohlstand paradoxerweise mehr Ungleichheit produziert #
Wachstum galt und gilt noch als Allheilmittel: Je größer der Kuchen, desto mehr für alle, heißt es. Doch in Wirklichkeit wächst mit dem Kuchen vor allem der Abstand zwischen den Stücken. Denn Wachstum verteilt sich nicht gleichmäßig, sondern entlang der bereits bestehenden Eigentumsverhältnisse und Zugriffsmöglichkeiten auf Kapital.
Je produktiver eine Volkswirtschaft wird, desto mehr Kapital sucht Anlagemöglichkeiten. Ein wachsender Anteil davon fließt nicht in zusätzliche reale Investitionen, sondern in finanzielle Vermögenswerte: Aktienrückkäufe, Immobilienportfolios, strukturierte Produkte, Derivate.
Aus einem primär industriell getriebenen Kapitalismus ist ein hochgradig finanzialisierter Kapitalismus geworden. Das verstärkt Vermögenspreisinflation und begünstigt jene, die bereits Vermögenswerte halten.
Es gab historisch begrenzte Phasen, in denen Wachstum Ungleichheit zeitweilig verringerte – etwa in den Jahrzehnten der „Great Compression“ zwischen 1945 und ca. 1975. Sie beruhten jedoch auf außergewöhnlichen Rahmenbedingungen: eine durch Kriegszerstörung erzwungene Vermögensnivellierung, hohe Spitzensteuersätze, starke Gewerkschaften und ein regulierter Finanzsektor. Diese Voraussetzungen bestehen heute nicht mehr. Unter den gegenwärtigen institutionellen Bedingungen wirkt Wachstum nicht nivellierend, sondern verstärkend in Richtung Ungleichheit und weiter: Richtung ausgesprochener Ungerechtigkeit.
Der paradoxe Effekt: Je reicher eine Gesellschaft wird, desto stärker kann sie durch ihre eigene Vermögensdynamik gespalten werden. Instabilität entsteht weniger aus verbreiteter Armut als aus extremer Konzentration von Vermögen und Marktmacht – selbst wenn viele am Durchschnittswachstum partizipieren.
„Wir sind ein Teil von jener Kraft / die stets das Gute will und stets das Böse schafft.“
heißt es in Goethes „Faust“. Das trifft auf Systeme mit Wachstumszwang besonders zu.
Auch gut gemeinte Maßnahmen führen, fatalerweise oft über verschlungene Nebenwege, zu Negativwirkungen:
- Niedrige Zinsen sollten Krisen abmildern, wenn diese schon nicht verhindert wurden – sie senken aber Risikoprämien und befeuern Leverage sowie Vermögenspreisblasen.
- Globalisierung sollte Wohlstand verbreiten – sie kanalisiert Kapitalströme in Hochrenditemärkte und verstärkt den Standortwettbewerb.
- Digitalisierung sollte Teilhabe ermöglichen – sie begünstigt Skaleneffekte und Netzwerkeffekte, die Daten- und Marktmacht bei wenigen Plattformen („Silos“) konzentrieren.
Die Dynamik exponentieller Prozesse macht sogar wohlmeinende Konzepte wie „Grünes Wachstum“ und dergleichen über Rebound‑ und Netzwerk-Effekte sowie Marktstruktur zu Hebeln der Kapital‑ und Machtkonzentration.
- Rebound‑Effekte: Effizienz senkt Stückkosten, Nutzung steigt, Gesamtkonsum wächst – große Anbieter mit Skalenvorteilen schöpfen das Mehrvolumen ab (z. B. LED‑Licht, spritsparende Autos, Cloud).
- Netzwerkeffekte: Der Wert steigt mit der Nutzerzahl („Winner‑takes‑most“); Datenvorteile verstärken Dominanz, Plattformen setzen Standards und Bedingungen.
- Marktstruktur: Hohe Fixkosten und niedrige Grenzkosten (digital), plus vertikale Integration, erzeugen „natürliche“ Oligopole; Größe bestimmt Preise, Zugänge und Sichtbarkeit.
Kurz: Effizienz schafft Volumen, Netzwerke bündeln es, die Struktur belohnt Größe – ohne wohlüberlegte Regeln kippt das gut Gemeinte in Unvorhergesehens.
Nicht zu Ende gedachte Gegenmaßnahmen erzeugen nicht selten systemisch Zweit– und Drittrundeneffekte, die ohne Regeln (Wettbewerbspolitik, Transparenz, harte Budgetbeschränkungen) die Konzentrationstendenz sogar noch verstärken.
Vom quantitativen zum qualitativen Versagen. Exkurs in das Tagesgeschehen #
Exponentiell sich ausdehnende Systeme scheitern nicht unbedingt an schierer Größe, schon gar nicht an großen Zahlen als solchen, sondern indem sie Strukturen sprengen. So als ob der Klebstoff für ein kompliziertes Gerüst überdehnt und schließlich zerrissen würde. Ohne gesellschaftlichen Zusammenhalt aber erlischt die Bereitschaft zur überpersönlichen Kooperation – und zur Duldung ungleicher Verteilung.
Zahlen markieren lediglich das Ausmaß. Sie sind Symptom, nicht Ursache – auch wenn die Dimensionen in inflationären Zeiten surreal wirken können.
Ein solcherart surreal–illustrierendes wie aktuelles Beispiel aus dem Bereich der Börse, dem Ort, wo Kapital bewegt und Preise gemacht werden:
Im Herbst 2025, zur Zeit, als ich das schreibe, vereinigten die größten sieben US‑Unternehmen in etwa so viel Marktkapitalisierung auf sich wie alle börsennotierten Unternehmen der gesamten EMEA‑Region (Europa und rund um das Mittelmeer) zusammen – rund 20 Billionen Euro.24
Obwohl selbstverständlich die exakten Werte je nach Stichtag, Indexzuschnitt und Wechselkurs (erheblich) schwanken: Entscheidend ist die Größenordnung! Eine Handvoll US-Unternehmen wird höher gewichtet als rund 12.500–14.500 Unternehmen auf der anderen Seite des Atlantiks.
Allein Nvidia mit derzeit circa fünf Billionen US‑Dollar Marktkapitalisierung soll, so signaliert uns diese Zahl, das Zweieinhalbfache des gesamten DAX, also der vierzig größten deutschen Konzerne, wert sein.
Auch Zahlen zur aktuellen globalen Vermögensverteilung zeigen die enorme Schieflage: Die untere, ärmere Hälfte der Weltbevölkerung besitzt etwa 1–2 % des globalen privaten Nettovermögens; das oberste 1 % vereint dagegen, je nach Quelle, etwa 38–45 % auf sich, also fast schon die andere Hälfte. Das oberste Dezil (10%) kontrolliert schon rund 75–80 %, sprich: mehr als die Hälfte. (Datenbasis 2023, Publikationen 2024)25
Stellen wir uns das als Vermögenstorte vor, so muss sich die Hälfte aller Menschen um ein bis zwei Hundertstel des Kapitalkuchens streiten. Umgekehrt bekommt ein Hundertstel der wirklich Reichen überbordend mehr als es je essen und verdauen könnte. – Eine verkehrte (lat. perverse) Konzentration an Vermögen, die nichts Gutes verheißt.
Es wird deutlich: Wenn Ungleichheit strukturell bestimmend wird, verändert sie ihren Charakter: Aus einer Bedingung, die ziviles Zusammenleben in aller Komplexität ermöglicht, wird eine Kraft, die Gemeinschaften zerstören kann und zerstört.
Dem Aufbau dieser Spannung, die lange „unter der Hand“ sich entwickelte, lässt sich mittlerweile zuschauen, nämlich politisch.
In dieser Politik–„Sphäre“26 verschieben sich parallel zur extremen Vermögens- und Marktmacht die Anreize weg von demokratischer Willensbildung hin in Richtung auf Re‑Personalisierung von Macht. Ökonomisches Kapital wird getauscht in politisches Kapital, also in Deutungsmacht. Und diese wird schließlich umgemünzt in gestaltenden Vollzug.
Instutionalisierte Checks and balances, demokratische Kontrolle, Gewaltenteilung und Opposition erodieren und verlieren an Gewicht gegenüber der Exekutive. Der Schwanz wedelt, salopp ausgedrückt, mit dem Hund.
China, Russland, Indien, USA sowie zahllose weltpolitisch unbedeutendere Staaten: Die (noch) demokratische Weltöffentlichkeit staunt, in welchem Ausmaß einzelne Personen Aufmerksamkeit und, vor allem, Macht auf sich ziehen.
Die scheinbar für die Ewigkeit errichteten Säulen der Gewaltenteilung – Legislative, Exekutive, Judikative– tragen selbst die US-amerikanische Vorzeigedemokratie kaum mehr. Entkernt und nur noch repräsentativ–symbolisch ragen sie in den herrschaftlichen Himmel präsidialer Glorie. Loyalität zum Präsidenten ersetzt derzeit alles andere.
Selbst die einmal sakrosankte, von der amerikanischen Verfassung wie kaum anderes geschützte Meinungsfreiheit wird ausgehöhlt. Die Presse wird in „gut“ (loyal zum Präsidenten) und „böse“ (kritisch) eingeteilt. Die Vertreter der „bösen“ Presse werden zunehmend von unmittelbarer Teilhabe ausgeschlossen, etwa indem sie den Präsidenten auf Reisen nicht mehr, wie Jahrzehnte üblich, in der Air Force One begleiten dürfen oder indem sie verzögert mit Informationen versorgt werden.
Wie paralysiert schauen alle, die nicht mitmachen, dem Treiben zu. Nur allmählich formiert sich Widerstand.
Landesweite Proteste in den USA unter Motti wie „No Kings!“ artikulieren die Sorge um den Verlust geschichtlich teuer erkämpfter demokratischer Errungenschaften.
Auch andere gesellschaftliche Säulen – Universitäten und Wissenschaften! – geraten unter massiven politischen Druck. Wie schon Judikative, Legislative und Presse werden sie auf Linie gebracht, indem ihnen staatliche Gelder nur unter sehr restriktiven, von Ideologie diktierten Bedingungen zugeteilt werden.
Die Re-Personalisierung politischer Macht manifestiert sich – und hier wird es sogar grotesk – selbst architektonisch: Ein 30 bis 50 Meter hoher, vom Präsidenten persönlich visionierter Triumphbogen, im Volksmund „Arc de Trump“ genannt, soll in Washington gegenüber dem Lincoln Memorial entstehen – Teil der vom Präsidenten initiierten städtebaulichen Umgestaltung zum anstehenden 250-jährigen Jubiläum der Unabhängigkeit. Und es handelt sich nicht nur um medienwirksame Absichtserklärungen. Der Ostflügel des Weißen Hauses wurde bereits, ohne dass der Präsident jemanden gefragt hätte, abgerissen, um ihn durch einen größeren Ballsaal im pompösen Trump-Stil zu ersetzen. 27
Was wir also beobachten: Unter permanentem Steigerungsdruck – Wachstum! – vergessen Gesellschaften, was ihnen über die Anhäufung von Vermögen hinaus etwas bedeutet; was sie wollen; wohin sie wollen. Selbst wenn ihre Institutionen formal weiter arbeiten, tun sie es sinn–entkernt.
Und schlimmer noch: Die Folgen von Macht‑ und Vermögenskonzentration wirken über einzelne Amtszeiten und Amtsträger hinaus. Langsam offenbart sich jedem: Präsidenten wie Trump und Autokraten wie Xi, Putin, Narenda Modi sind nicht Ursachen, sondern Symptome einer fortschreitenden gesellschaftlichen Krankheit, deren Wurzel der Wachstumsglaube ist.
Das endet vielleicht nicht mit einem abrupten Kollaps. Doch ganz sicher begleitet qualitative Entleerung diesen gesellschaftlichen Prozess:
- Märkte verlieren ihre Funktion als Entdeckungs‑ und Adaptionsverfahren, wenn Marktmacht, Informationsasymmetrien und Rent‑Seeking28 dominieren.
- Politik verliert ihre genuine Steuerungsfähigkeit, wenn kurzfristige Machttaktik systemisch notwendige Korrekturen überlagert.
- Die Menschen verlieren ihr Vertrauen in die Gemeinschaft – die Voraussetzung für Kooperation und für die Belastbarkeit jeder Zivilisation.
Ob auf Einkehr und Einsicht zu hoffen ist, bleibt offen. Darauf bauen sollte man nicht.
Wenn Ungleichheit gesellschaftlich und sozial untragbar geworden ist – wie können wir dann überhaupt noch verantwortungsvoll steuernd eingreifen? Wäre Moral noch eine Option?
Die Illusion der Vernunft – und die Hoffnung darauf #
Je komplexer eine Gesellschaft wird, desto mehr, sollte man meinen, rufe sie nach Vernunft. Doch das Gegenteil scheint sich durchzusetzen: Immer irrationaler und unübersichtlicher wird es.
Die Idee, dass Menschen auf Argumente bauen, ist das Grundnarrativ der Aufklärung. Die derzeitigen Erfahrungen lehren leider das Gegenteil: Menschen reagieren auf Reize, auf Angst, auf Statusverlust, auf Emotion. Oder umgekehrt: Man glaubt, Moral nicht mehr nötig zu haben.
In der entstehenden Leere wird möglich, was ich die Nasenring-Ökonomie nenne: Der Mechanismus, mit dem Menschen durch Bedürfnislenkung und Statusdruck an ein System gebunden werden, das sie am Nasenring der Befriedigung schnell vergehender Bedürfnisse herumführt und das langfristig gesehen gegen ihre eigenen Interessen.
Moderne Ökonomie operiert dabei weniger mit offenem Zwang als mit Verführung. Wahlfreiheit besteht, Entscheidungen werden jedoch durch schlaue Vorstrukturierung von Optionen gelenkt. So entstehen nur scheinbar voneinander unabhängige Phänomene wie Bindung an Konsum, Verschuldung und Selbstoptimierung.
Die Ausnutzung menschlicher Schwächen ist das Herrschaftsmittel schlechthin in Konsumgesellschaften. Und darin besteht die stille „Genialität“ des Systems: Es kaschiert Verführung als Freiheit und Anpassung als Tugend.
Wo allerdings dies alles tragende Konsumversprechen nicht mehr eingelöst werden, Versuche der Selbstverwirklichung zur Überforderung führen, Gestaltungswünsche in Ohnmacht sich auflösen, gewinnen Erzählungen mit emotionaler Kohärenz wie populistische, nationalistische oder religiöse Angebote an Zuspruch. Sie geben Ängsten ein Gesicht und diffuser Beunruhigung eine Richtung. Sie simulieren Sinn, wo Vernunft zu abstrakt erscheint und Systemkritik zu komplex.
Populismus ist damit kein Betriebsunfall, sondern die andere Seite der Medaille der Nasenring-Ökonomie; will sagen: Symptom einer Gesellschaft, die zu komplex für ihre eigene Aufklärung geworden ist.
Rationale Appelle scheitern, weil sie gegen tiefere Triebe antreten müssen. Das lässt sich durch Argumente ebenso wenig bremsen wie eine Sucht durch gute Ratschläge.
Wer das durchschaut, läuft Gefahr zu resignieren. Die Wahrscheinlichkeit zu scheitern ist hoch. Doch Zynismus ist nur die negative Schwester der Naivität: Er sieht klar, aber handelt nicht – oder nur noch bar jeder Verantwortung.
Die Aufgabe besteht darin, desillusioniert zu bleiben und trotzdem nach konstruktiven Lösungen zu suchen. „Kaltes Blut“, ein nüchterner Blick sind vonnöten
Gesucht sind:
- Eine Ethik ohne Illusionen, eine, die sich menschlicher Schwächen und sinnentleerter Verhältnisse bewusst wird und bleibt und diese „einbaut“ – ein bisschen analog zur Nasenring‑Ökonomie gebildet. Nicht selten wollen Menschen zum Guten verführt werden.
- Systemische Strukturen, die am Ende allen Menschen dienen, ohne dass die Privilegierten übermäßig Einsicht zeigen müssen.
Das Ziel: Jener Vernunft Vorschub zu leisten, die nicht (nur) an Einsicht appelliert, sondern Strukturen schafft, in denen vor allem überprivilegierte Akteure vernünftig und sei es zähneknirschend handeln müssen.
Zwischen Ohnmacht und Verantwortung #
Doch wie kann „das humane Element“ obsiegen?
Das Projekt der Moderne bestand, nach zwei fürchterlichen Kriegen und dem Holocaust, in einer doppelten Verheißung: materieller und moralischer Fortschritt gingen von nun an Hand in Hand. Diese Verheißung konnte aber nicht eingelöst werden. Sie scheiterte und scheitert beinahe zwangsläufig an der Dynamik exponentiell wachsender, mittlerweile sichtbar wuchernder Ungleichheit.
Der Wohlstand wuchs zwar (von sehr niedrigem Niveau aus) durchaus auch in der Breite – aber dennoch höchst ungleich verteilt, wie dargelegt. Die Mittel der Emanzipation, die flächendeckende Befriedigung aller Bedürfnisse, wurden, in paralleler Entwicklung, zu Mitteln der Kontrolle. Aus der Hoffnung auf bestimmende Teilhabe wurde und wird zunehmend die Erfahrung struktureller Exklusion. Das Gefühl der Ohnmacht macht sich breit.
Spaltung, Populismus, Repersonalisierung der Politik und das Verlorengehen sozialer Kohäsion sind, wie angedeutet, keine Fehlentwicklungen, sondern Folgen einer Wachstumsgesellschaft, deren Funktionieren kein Außen kennt. Wer im System erfolgreich ist, perpetuiert es; wer verliert, stabilisiert es in ohnmächtiger Paralyse.
Einer „praktischen Vernunft“, ausgehend von Immanuel Kant, kann nicht die Rolle der Gegenkraft zugemutet werden. Sie könnte sich nicht gegen systemische Zwänge durchsetzen. Niemand kann einzelkämpferisch wirksam Vermögenskonzentration bekämpfen, schon gar nicht im Rahmen einer Wachstumsgesellschaft. Hierin gleicht Kants pflichtbewussster Kämpfer für das Gute dem Ritter zu Beginn der „Neuzeit“. Dem Feuerwerk der Kanonen hatte dieser nichts von Belang entgegenzusetzen – weniger noch als Windflügeln. Im Gegenteil: Das Korsett seiner Rüstung (= vollkommene Pflichten in Kants Ethik) machte ihn auf dem Schlachtfeld zur leichten Beute. Für die Moralritter unserer Tage genügt es, sie einem Feuerwerk aus Hohn und Spott preiszugeben; es genügt, sie per social media lächerlich zu machen.
Der Versuch, Ethik durch utilitaristische, konsequentialistische oder gar teleologisch motivierte Steuerung zu ersetzen und somit letztlich moralischen Erfolg durch Erreichung gesteckter – ökologisch, technischer, politischer, religiöser – Ziele zu definieren, muss jedoch ebenso fehlschlagen. Denn: So würde schon der Begriff von Ethik gänzlich verfehlt.
„Das Gute“ und die nie endende Reflexion darauf würden durch Ziele ersetzt, und niemand käme mehr auf die Idee, dass diese ihrerseits der moralischen Rechtfertigung bedürften. Es handelte sich mithin überhaupt nicht mehr um ethische Ideen, sondern bestenfalls um – Ideen halt: politische, juristische, ökonomische usw. Und so sollten sie ehrlicherweise auch diskutiert werden.29
Damit ist nicht gesagt, dass politische Steuerung entbehrlich wäre. Ihre Akteure brauchen jedoch eine moralische Richtschnur, sozusagen einen Moralometer, der, angelegt in Entscheidungssituationen, das „rechte Maß“ verbürgte. Prinzipien und Werte sind nicht durch irgendwelche Zielsetzungen substituierbar.
Gleiches gilt für Versuche, das Heil in technischer Intelligenz zu suchen. Diese könnte, so tönen derzeit besonders die AI-Apologeten, lernen, simulieren, prognostizieren und steuern; und zwar absehbar immer besser, im Gleichschritt mit dem technischen Fortschritt!
So ein Quatsch! Ich muss hier etwas ausholen:
Das mag sein mit dem Lernen und Steuern. Aber keine sogenannte30 künstliche Intelligenz kann ein Sollen wollen. Keine hat Gefühle, aus denen ein Wille entspringen könnte. Da ist ein normatives Vakuum.
Selbst wenn AGI/ASI (AGI = Artificial General Intelligence; ASI = Artificial Superintelligence) einmal technisch zu verwirklichen wäre, bliebe dieses Vakuum bestehen. Umso bedrohlicher würde ihr Einsatz im Entscheidungsfall! Wer könnte noch beurteilen, ob sie richtig oder falsch läge, wenn sie per Definition die menschliche Intelligenz überstiege?
Ergebnis wäre nicht Befreiung, sondern umgekehrt: totale Unfreiheit durch radikale Zentralisierung von Steuerung, und das auch noch durch eine elektronische Maschine. Verantwortungsethisch zugespitzt: Eine AI könnte beinahe unbegrenzt Gründe berechnen oder entlang dem „Eignungskriterium“ Ziele verfolgen, aber keine Pflichten bejahen. Sie hätte kein Gewissen und würde Amoral potenzieren.
Humanes Handeln in bloßes Datenmanagement zu verwandeln, vertiefte nicht nur die Ungleichheit, sondern machte sie endgültig unüberwindbar. Denn man delegierte praktisch die Herrschaft, wenn man das zu Ende denkt, an eine Superintelligenz. Selbst ihre vermeintlichen Hauptnutznießer, die Reichen, hätten das Nachsehen.
Da mögen manche AI-Ethiker zwecks Einhegung noch soviel über „value alignment“, „preference learning“, „constitutional AI“ und dergleichen diskutieren. Was am Ende entstünde, wäre eine algorithmisch gerasterte Simulation menschlichen Wollens. Also gar nichts von Belang. Überließe man sich Maschinen, gäbe es keine auf Freiheit gegründete Normativität mehr. Man bekäme eine Ethik ohne Körper, ohne Emotionen und ohne Empathie. Also kurz: ein Unding.
Zugleich verstärkt KI, schon im Hier und Jetzt, gerade wegen ihres normativen Vakuums, bestehende Ungleichheiten. Die Konzentration von Datenmacht, skalierbare Automatisierung und die Möglichkeit, Renten algorithmisch abzuschöpfen, begünstigen jene Akteure, die bereits über Kapital, Infrastruktur und Zugriffsmöglichkeiten verfügen.
KI wird damit – ohne klare, einhegende Vorgaben zu ihrer Nutzung – nicht zum Ausgleich, sondern zum Beschleuniger struktureller Asymmetrien. Sie vergrößert in dynamischen Märkten die Kluft zwischen den oberen und unteren Gruppen.
Sowohl paralysierte Ohnmacht als auch technisierte Steuerungsallmacht führten – bei fehlender demokratischer Kontrolle und ohne normative Verankerung – geradewegs in einen Totalitarismus der Mittel ohne Zwecke; sprich: in Ent–menschlichung31
Die Träume der Techno‑Elite von der allgemeinen Superintelligenz sind daher so philosophisch uninformiert wie sie menschlich ahnungslos daherkommen; sie hätten das Zeug, würden sie Eins–zu–Eins umgesetzt, den endgültigen Schlusspunkt unter jede bürgerliche Zivilisation zu setzen. Sie sind schlicht aberwitzig.
Meine Empfehlung: Nachsitzen! Und mal ernsthafter nachdenken. Am besten mit Büchern, ganz gleich ob analog oder digital gelesen. Eine Menge guter Gedanken statt immer nur Geld wäre darin zu finden.
Haltung statt Hoffnung: Ethik zwischen Absurdem und Notwendigkeit #
Beherzigten die Technofreaks meine Empfehlung, stießen sie zum Beispiel auf Albert Camus.
Der Autor von Mythos des Sisyphos und Der Mensch in der Revolte, zeigte eher in die Richtung einer – Achtung: ironisch gebrochen – brauchbaren Ethik: nämlich das Absurde zu akzeptieren und trotzdem human zu handeln. Sie gipfelt in dem Satz:
„Ich empöre mich, also sind wir.“32
Nicht das Ergebnis adelt das Tun, sondern die Weigerung, sich dem sinnlos Erscheinenden als Mensch zu beugen. Aus der Absurdität schält sich die Menschlichkeit.
Ethik im Angesicht des Unabänderlichen heißt: Nichts hoffen – und dennoch Verantwortung zu übernehmen; vielleicht nicht siegen zu können – und dennoch zu kämpfen; nicht mehr zu glauben – und dennoch zu handeln. Und zwar immer mit Blick auf das Ganze des Menschseins.
Dies ist ein nur scheinbar resigniertes Pathos. Camus’ Revolte ist ein aus der Bejahung des Menschseins geborenes Nein! zur Ent–menschlichung.
Oder sie läsen von antiker Weisheit: Revolte (Camus) träfe auf Gelassenheit (Stoiker).
Beide ethischen Richtungen anerkennen das Unabänderliche, ziehen aber unterschiedliche Konsequenzen. Der Stoiker findet Freiheit in der Zustimmung zur Notwendigkeit; der „Mensch in der Revolte“ behauptet Freiheit durch aktives Widersprechen.
Zwischen beiden Polen verlaufen die Linie moderner Ethik: Gelassenheit ohne Zynismus, Revolte ohne Illusion. Im Zentrum: Die Würde des Menschen.
Resümee: Ethik im Angesicht des Unabänderlichen ist keine Lehre vom Erfolg, sondern eine der Behauptung und Beharrlichkeit. Sie verlangt, Sinn nicht zu finden, sondern zu erzeugen – durch Handeln, das sich seiner Begrenztheit bewusst ist.
So wie ein Dreispringer, der nach jedem Sprung erneut anläuft und springt, bleibt auch das moralische Subjekt in Bewegung: zwischen Erkenntnis und Zweifel, Zustimmung und Handlung, Landung und Neubeginn.
Seine einzige Hoffnung: Impulse des Guten ins System zu senden – doch ohne Garantie auf Wirkung.
Die Suche nach dem Maß – Lösungsperspektiven jenseits der Illusion #
Kritik gängiger Ansätze #
Die Rhetorik der Korrektur der sogenannten „Auswüchse“ unserer Wachstumsversessenheit ist allgegenwärtig:
Umverteilung, grünes Wachstum, Kreislaufwirtschaft, nachhaltige Finanzen, Vermögenssteuern – mit alldem wird behauptet, die Widersprüche der Gegenwart ließen sich durch Anpassung im System beheben.
Doch all das bleibt kosmetisch, solange das zugrundeliegende Wachstumsparadigma unangetastet bleibt. Die Nachkriegszeit beweist nicht das Gegenteil.
Das Grundproblem ist eben exponentieller Natur: Wenn Kapitalrendite und Produktivitätszuwachs dauerhaft höher sind als das reale Einkommenswachstum der Mehrheit, verschiebt sich Vermögen nun einmal Richtung Kapitalbesitzer, wie oben gezeigt.
Eine progressive Steuerpolitik könnte diesen Mechanismus bestenfalls leicht ausbremsen – nicht aufheben.
Auch das Narrativ vom „grünen Wachstum“ erweist sich zunehmend als Illusion. Technologische Effizienzgewinne führen unter realen Marktbedingungen zu Rebound-Effekten: Der Ressourcenverbrauch sinkt kurzfristig, steigt langfristig aber wieder an.33 Damit wird Nachhaltigkeit zur Verlängerung des Alten – nicht zu seiner Überwindung.
Sanfte Reformen verschieben deshalb nur Zeitpunkte. Sie setzen nicht die mathematisch–ökonomischen Gesetzmäßigkeiten außer Kraft. Sie verschleiern das Systemische mit Hilfe falsch–moralischer Rhetorik. „Nachhaltigkeit“, „soziale Verantwortung“ oder „Corporate Purpose“ werden zu Sprachspielen der Selbstberuhigung.
Konsumenten, erst recht aber Privilegierte verzichten nicht freiwillig. Und selbst wenn manche bereit dazu wären (und manche es tatsächlich sind): Ihre moralische Einsicht bleibt strukturell irrelevant, solange insgesamt Macht und Besitz derart asymmetrisch verteilt bleiben, dass die allgemeinen Interessen zugunsten von Eigeninteressen vernachlässigt werden. Im Gegenteil: Ziehen sich einige aus dem Spiel, stoßen andere mit weniger Skrupel in die Lücke.
Um gestaltend im öffentlichen Raum zu wirken, taugen Empörung und Moralkeulen nicht.
Die Sphärentrennung zwischen den Bereichen ist zentral: Individuelle Verantwortung, der Ethik Kern, gründet auf freier Entscheidung; Systeme hingegen operieren „in sich selbst“, wenn auch im Zusammenspiel vieler Subsysteme wie Politik, Justiz, Wirtschaft. Ethik kann diese Systeme und Subsysteme nur indirekt und unbestimmt beeinflussen durch Injektionen von Handlungsprinzipien, von Maß und Begründung.
Den Gang der Systeme verändert jedoch allein die gesellschaftliche Ordnung, sprich: die durch Politik, Justiz, Wirtschaft usw. gesetzten Rahmenbedingungen, in Verbund mit robuster Durchsetzung, damit sie auch be– und geachtet wird.
Kurz: Ethik liefert das Maß, Politik setzt um, Institutionen bewahren Erreichtes. Und mündige Bürger hören nicht auf, um deren Erhalt und Durchsetzung zu kämpfen.
Vielverprechendere Vorschläge #
Konkreter: Sehr große Vermögen und Konzerne lassen sich, so meine Hoffnung, ohne Enteignungsrhetorik gen Gemeinwohl steuern, indem man Recht und Gesetz entsprechend gestaltet statt auf Appelle zu setzen. Ähnliches verfolgten schon die Vordenker*Innen des Konzeptes der Sozialen Marktwirtschaft. In dieser Richtung müsste man weiter arbeiten.
Einige Vorschläge aus der Diskussion (Achtung, es wird nun kurz ziemlich technisch!). Alle mit dem Focus auf Gemeinwohl‑Governance statt bloßer Umverteilung:
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Instrumente:
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Public‑Interest‑Shares: unveräußerliche öffentliche Beteiligungen ab definierten Erbschafts‑/Größenschwellen; mit Mitbestimmungsrechten (z. B. Aufsichtsratsmandat, Vetorechte bei Externalitäten) und eventuell Ausschüttungen in Bildungs–/Gesundheits–/Infrastruktur–/ökologische Ausgaben und Investitionen lenken.
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Kurzfristrenditen zugunsten Systemperspektive begrenzen, indem
- Ausschüttungen und Entnahmen (Dividenden, Gewinnabführungen, Rückkäufe) satzungsmäßig gedeckelt und Gewinne vorrangig reinvestiert statt verausgabt werden;
- Mission, Vermögensbindung und Stimmrechtsstruktur (Unveräußerlichkeit/Vinkulierung, Stimmrechtstrennung, Golden‑Share/Veto) gemeinwohlorientiert in Eigentums‑ und Satzungsordnung verankert sind;
- verbindliche Gemeinwohl‑Quoren greifen: Mindestanteile gemeinwohl‑qualifizierter Mitglieder in Aufsichts-/Beiratsgremien sowie qualifizierte Zustimmungsquoren bzw. Impact‑Gates bei strategischen Beschlüssen (z. B. M&A, Standortschließungen, Externalitäten).
- Unabhängige Wirkungsaudits (KPIs) die Einhaltung prüfen; bei Verfehlung Sanktionen bis hin zu Stimmrechtsentzug/Sperrminorität.
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Mitarbeiterkapital mit Sperrfristen: breite Eigentumsanteile mit Stimmrechten, diversifiziert gegen Klumpenrisiken.
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Impact‑Gutschriften: steuerliche Vorteile nur bei unabhängig geprüfter, zusätzlicher Wirkung zum besten des Gemeinwohls; standardisierte KPIs (Key Performance Indicator / deutsch: Leistungskennzahl bzw. Schlüsselkennzahl), z.B. gemäß der Formel S.M.A.R.T.+A.M.V. (Specific, Measurable, Auditable, Relevant, Time‑bound + Additional, Material, Verified).
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Gegenleistungs‑ und Beneficial‑Ownership‑Register: Transparenz über Subventionen, Auflagen und wirtschaftliches Eigentum als Voraussetzung für Kontrolle.
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Anreize für die Geber („Versüßung“)
- Ko‑Mitbestimmung bei Zweckbindung, reputationsstarke Gemeinwohl‑Labels, planbare Dividenden aus Public‑Interest‑Shares, Zugang zu ko‑investierten öffentlichen Projekten.
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Sicherungen (Guardrails)
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Ergänzend: Praxisnahe Schutzmechanismen, mit denen Transparenz und Datenschutz/ Persönlichkeitsrechte vermögender, nicht-öffentlicher Personen austariert werden können. Kurzformel: So viel Transparenz wie nötig, so wenig persönliche Details wie möglich – mit gestuftem Zugang, strikter Zweckbindung, technischer Abschirmung, unabhängiger Zugangsprüfung und wirksamen Rechtsbehelfen. Damit bleibt die öffentliche Kontrolle über Macht‑ und Eigentumsstrukturen möglich, ohne die Privatsphäre rechtstreuer, nicht‑öffentlicher Eigentümer unverhältnismäßig zu verletzen.
Weitere Ideen #
Der klassisch antike Gedanke des Maßhaltens (σωφροσύνη) sollte nicht als moralische Dekoration humanistisch–gebildeten Denkens, sondern als eine gesellschaftliche Überlebensstrategie gepriesen werden. Während Aristoteles Tugend als das „rechte Maß“ zwischen Extremen verstand, ohne die Extreme genau zu bestimmen,36 scheint mir heute sinnvoll, „Maß“ als (oszillierende) Mitte zwischen den Polen Eigeninteresse und Gemeinwohl aufzufassen. Es war fatal, dieses Prinzip in modernen Gesellschaften ins Private zu verbannen, während das System selbst Maßlosigkeit belohnt.
Eine Politik der Begrenzung müsste zeitgemäß institutionell statt individuell ansetzen: durch feste, gleichwohl rational revidierbare Grenzen für Ressourcenverbrauch, Kapitalakkumulation und politische Amtszeit.
Die Debatte über „Degrowth“ bleibt oft moralisch aufgeladen und ökonomisch unpräzise. Notwendig ist kein Schrumpfungsdogma, sondern eine Entkopplung von Wohlfahrt und BIP.
Das Konzept des A-Growth37 beschreibt diesen Ansatz der Entkoppelung: wirtschaftliche Aktivität wird weder als Selbstzweck gefeiert noch moralisch verdammt – sie verliert schlicht ihren ideologisch aufgeladenen, quasi-normativen Status.
A-Growth bedeutet: Wachstum ist weder Ziel noch Feind, sondern irrelevant, solange ökologische und soziale Grenzen respektiert werden. Diese Entwertung des Wachstumsfetisch wäre nicht in erster Linie Verzicht, sondern ein Perspektivwechsel. Wohlstand würde als auf das Menschsein und, allgemeiner betrachtet, auf das Leben auf diesem Planeten zugeschnittene Stabilität des Ganzen verstanden, die nicht mehr auf permanente Steigerung von Bedürfnisbefriedigung angewiesen ist.
Wirtschaft darf wachsen, wenn es Sinn ergibt – aber sie muss nicht. Also Innehalten statt Verzögern. Maß statt Mehr. Stabilität innerhalb planetarer und global–sozialer Grenzen statt permanenter Expansion.
Beispiele:
Konkret hieße das etwa im Energiesektor: Nicht die Steigerung des Energieverbrauchs wäre das Ziel, sondern die Stabilisierung einer verlässlichen Versorgung innerhalb ökologischer Grenzen. Investitionen würden nicht an ihrem Beitrag zum BIP gemessen, sondern daran, ob sie Versorgungssicherheit erhöhen, Emissionen senken und Abhängigkeiten reduzieren. Wachstum dürfte stattfinden, wo es diesen Zielen dient; es wäre jedoch kein Kriterium für Erfolg.
Übertragen auf den Wohnungsmarkt bedeutete A-Growth: Nicht die maximale Ausweitung der Bautätigkeit wäre maßgeblich, sondern die Sicherung von Wohnraum, der leistbar, ressourcenschonend und sozial integriert ist. Immobilienpreise würden nicht als Wohlstandsindikator gelten; entscheidend wäre die Stabilität des Zugangs zu Wohnraum. Wachstum entstünde nur in diesem Rahmen.
Stellt sich noch die Frage, wie „rechtes Maß“ praktikabel zu bestimmen und zu formulieren wäre. Es braucht „Leitplanken“. Sie lieferten keine exakten Schwellen liefern, ab denen ein System ‚kippt‘, sondern markierten eher Zonen, in denen funktionale Ungleichheit in destruktive Ungerechtigkeit umzuschlagen droht.
Auch hier einige (eher technische) Anregungen aus der Diskussion:
- Vermögenskonzentration: Orientierung an gut nachvollziehbaren Größen wie dem Anteil des Gesamtvermögens, der bei den reichsten 1 % oder 10 % liegt (Top-1 %/Top-10 %), ergänzt durch gebräuchliche Ungleichheitsmaße wie den Gini-Index sowie Angaben zur Verteilung von Erbschaften und Eigentum.
- Marktmacht: Einschätzung der Bündelung wirtschaftlicher Macht, etwa wie viele große Unternehmen einen Markt faktisch prägen. Zur Einordnung dienen gängige Konzentrationsmaße wie der Herfindahl-Hirschman-Index (HHI), Hinweise auf die Dominanz digitaler Plattformen durch Netzwerkeffekte und Datenvorteile sowie klar definierte Marktanteils-Schwellen für problematische Machtpositionen.
- Ökologische Belastung: Orientierung an der tatsächlichen Beanspruchung planetarer Grenzen, insbesondere an Emissionen pro Kopf und pro Sektor, am Ressourcen- und Flächenverbrauch sowie daran, wie diese Werte im Verhältnis zu anerkannten ökologischen Belastungsgrenzen stehen.
- Transparenz: Beachtung der Offenheit zentraler Informationen, darunter die Abdeckung von Beneficial-Ownership-Registern (wirtschaftlich Berechtigte), die Offenlegung von Subventionen und zugehörigen Gegenleistungen sowie die Qualität unabhängiger Prüfungen (Audit-Quote und -Qualität) für angerechnete Umwelt- und Sozialwirkungen (Impact-Gutschriften).
Resümee: Nicht (individuelle) Moral rettet das System, sondern eine Ordnung, die mit dem Blick auf das „rechte Maß“ sowie „das Ganze“ eingerichtet und deren Einhaltung überwacht wird. Im besten Fall kommen universal–moralische Maßstäbe („kategorischer Imperativ“) zur Geltung.
Fazit: Ungleichheit verstehen, um sie zu begrenzen #
Ungleichheit lässt sich nicht vollständig beseitigen. Jede organisierte Gesellschaft produziert Differenzen – in Bezug auf Besitz, Macht, Einfluss, Bildung. Sie sind der Preis funktionaler Komplexität. Doch jenseits eines – nicht leicht bestimmbaren – Maßes kippt das Unvermeidliche ins Destruktive.
Entscheidend ist, dass an diesem Punkt nicht mehr von Ungleichheit als funktionaler Differenz gesprochen werden kann, sondern von Ungerechtigkeit – dem Moment, an dem Macht- und Vermögensstrukturen das Gemeinwohl unterlaufen und seine Relevanz am Ende sogar leugnen.
Mehr Wissen führt nicht automatisch zu besserem Handeln. Das ist das Paradox der Moderne: Wissen wächst exponentiell, während persönliche Verantwortung stagniert. Informationen ersetzen leider keine Einsicht, und Einsicht, wenn es sie doch gibt, keine Zivilcourage.
Die Aufklärung versprach Autonomie durch Vernunft. Heute zeigt sich, dass Vernunft ohne institutionelle und emotionale Einbettung bestehende Machtverhältnisse tendenziell stabilisiert. Rationalität ohne Rückbindung an moralisches Maß dient dem System, nicht der Ethik. Wissen befreit nur, wenn es begleitet wird von der Bereitschaft, Konsequenzen zu ziehen – eine Bereitschaft, die sich nicht aus Wissen selbst ableiten lässt.38
Desillusionierung ist kein Verlust, sondern ein Fortschritt. Nur wer sich Illusionen nimmt, kann der Wirklichkeit begegnen – und sie mit etwas Fortune auch gestalten. Die Hoffnung, Systeme ließen sich moralisch bekehren, weicht der Einsicht, dass sie am Ende nur gezähmt werden können, wenn ein Strukturwandel angestoßen wird. Dazu bedarf es des Verständnisses, wie Zivilisationen funktionieren.
Camus’ Satz des „Ich empöre mich, also sind wir“ bringt die ethische Grundlage jenseits aller Illusionen auf den Punkt. Menschsein ist kein Zustand, sondern ein Verhältnis. Kein Individuum kann sich moralisch selbst genügen. Verantwortung bleibt zwar letztlich ans Individuum gebunden und geht von ihm aus; ist aber nie solitär zu verstehen.
Moral konkretisiert sich im Zwischen – in Beziehungen, in Sprache, Anerkennung, Gegenseitigkeit. Doch sie verlangt zugleich eine in der Persönlichkeit verankerte Haltung. Ohne Haltung bliebe alles Handeln beliebig; ohne Handeln verkäme Haltung zur Pose.
Das Bewusstsein, Mensch unter Menschen zu sein, ersetzt alle transzendenten Garantien.
Ziel ist eine Ordnung, in der Ungleichheit funktional bleibt, ohne in destruktive Konzentration zu kippen; Transparenz und kooperative Gemeinwohl‑Governance begrenzen Machtüberhänge; die genannten Messpunkte halten rechenschaftspflichtig.
Es bleibt festzuhalten: Ungleichheit muss sein. Schreiende Ungerechtigkeit aber nicht. Diese zu mildern liegt in unserer Hand.
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Der Prophet Hesekiel (ca. 593–571 v.u.Z.), selbst Priester und Teil der 597 v.u.Z. nach Babylon deportierten jüdischen Elite, klagt die systematische Korruption der Jerusalemer Führungsschicht an: Propheten („wie ein brüllender Löwe", V. 25), Priester (V. 26), Fürsten („wie reißende Wölfe", V. 27), falsche Propheten und Volk (V. 28–29). Gottes verzweifelte Suche nach jemandem, „der in die Bresche träte" (V. 30), bleibt erfolglos. Noch drastischer in Hesekiel 9: Dort befiehlt Gott die Auslöschung aller, die nicht „seufzen und jammern über alle Gräuel" (Hes 9,4) – nur wer sich aktiv vom System distanziert, wird verschont. Die Vision zeigt sechs „Männer mit Mordwaffen" (V. 2), die durch Jerusalem ziehen: „Schlagt tot ohne Erbarmen: Alte, Jünglinge, Jungfrauen, Kinder und Frauen" (V. 5–6). Das ist keine moralische Belehrung, sondern eine strukturelle Diagnose: Wo ein gesamtes System korrupt ist, gibt es keine neutralen Beobachter – nur Täter und Widerständige. Die historische Konsequenz neun Jahre später (586 v.u.Z. fiel Jerusalem) bestätigt Hesekiels Analyse: Gesellschaften, die ihre Privilegienstrukturen nicht selbst korrigieren, werden von außen korrigiert – durch Zusammenbruch. Hesekiels „reißende Wölfe" sind damit nicht nur moralische Anklage, sondern strukturelle Warnung: Privilegien, die „mit Zähnen und Klauen" verteidigt werden, destabilisieren das System, das sie tragen soll. ↩︎
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Der Begriff „Elite“ stammt etymologisch über das Französische (élite) aus dem lateinischen eligere – „auswählen, herauslesen“. Die antike Vorstellung, auf die allerdings häufig angespielt wird, findet sich hingegen im griechischen ἄριστοι („die Besten“; vgl. „Aristokratie“), das einen normativen Anspruch an Tüchtigkeit und Charakter enthielt. Der moderne Gebrauch oszilliert zwischen beiden Bedeutungsräumen: einerseits dem Anspruch besonderer Befähigung (im Sinne der ἄριστοι), andererseits dem – gelegentlich ironisch verwendeten – Moment des bloßen „Auserwählt-Seins“, das mehr über soziale Mechanismen als über persönliche Exzellenz aussagt. ↩︎
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Hanno Sauer, ebd., analysiert, wie Klassenpositionen sich durch systematische Abwertung und Diskriminierung verfestigen – ein Phänomen, das er als “Klassismus” begrifflich fasst. ↩︎
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Hanno Sauer: Soziale Klassen. Eine Philosophie der Ungleichheit (München: C.H.Beck, 2024), S. 147–189. Sauer argumentiert, dass Privilegien eine epistemische Dimension haben: Sie erzeugen systematische blinde Flecken, die verhindern, dass Privilegierte ihre strukturellen Vorteile als solche erkennen. ↩︎
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Vgl. u.a. Martyna Linartas: Unverdiente Ungleichheit. Wie unsere Erbengesellschaft gerechter werden kann. Hamburg: Rowohlt, 2024. – Linartas plädiert für progressive Vermögenssteuern als Korrektiv. ↩︎
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Walter Scheidel: The Great Leveler. Violence and the History of Inequality from the Stone Age to the Twenty-First Century. Princeton (NJ): Princeton University Press, 2017. ISBN 978-0-691-16502-8. Deutsche Ausgabe: Der große Gleichmacher. (wbg Theiss, 2018). ↩︎
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Die »apokalyptischen Reiter« stammen aus der Offenbarung des Johannes 6,1–8: vier Reiter auf einem weißen, roten, schwarzen und fahlen Pferd. Die Farben kodieren jeweils eine destruktive Kraft: der Reiter auf dem weißen Pferd steht für Eroberung (siegreiche Gewalt), der auf dem roten Pferd für Krieg (Blutvergießen), der auf dem schwarzen Pferd für Hunger (Teuerung und Rationierung), und der auf dem fahlen Pferd schließlich für den Tod, dem die Unterwelt folgt. Diese vier Kräfte bilden in der apokalyptischen Bildsprache einen strukturellen Zyklus des Zusammenbruchs. ↩︎
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Dennis Meadows et al.: The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind, New York: Universe Books, 1972. Deutsche Ausgabe: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1972. Die Studie, erstellt am MIT unter Leitung von Dennis und Donella Meadows, modellierte erstmals systemisch die Wechselwirkungen zwischen Bevölkerungswachstum, industrieller Produktion, Nahrungsmittelversorgung, Ressourcenverbrauch und Umweltverschmutzung. Ihr Hauptbefund: Exponentielles Wachstum stößt in einem endlichen System zwangsläufig an physische Grenzen – mit der Prognose eines möglichen Zusammenbruchs um die Mitte des 21. Jahrhunderts, falls keine grundlegenden Korrekturen erfolgen. Trotz breiter öffentlicher Resonanz (über 30 Millionen verkaufte Exemplare weltweit) und wissenschaftlicher Bestätigung der Grundthesen durch spätere Studien (Limits to Growth: The 30-Year Update, 2004; A Comparison of the Limits to Growth with 30 Years of Reality, 2008) blieb die politisch-ökonomische Wirkung begrenzt. Die Wachstumsdynamik wurde nicht strukturell gebremst, sondern durch technologische Effizienzgewinne und Globalisierung zeitweise sogar beschleunigt. ↩︎
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Das aus Japan stammende „Drei-Affen-Prinzip" (mizaru, kikazaru, iwazaru) – ursprünglich eine Mahnung zu weiser Zurückhaltung – verkehrte sich im Westen zur Metapher für bewusste Ignoranz. Die drei Affen symbolisieren hier Realitätsverweigerung: aktives Wegschauen trotz offensichtlicher Krisenanzeichen. Psychologisch entspricht dies der „willful blindness" (Heffernan, 2011) – dem selektiven Filtern unbequemer Wahrheiten, das im Kontext systemischer Krisen zur kollektiven Pathologie wird. ↩︎
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David Graeber und David Wengrow: “The Dawn of Everything: A New History of Humanity” (Farrar, Straus and Giroux, 2021). – Ca. 7500-5700 v.u.Z. wies Çatalhöyük trotz beachtlicher Größe (bis zu 10.000 Einwohner) keine erkennbaren hierarchischen Strukturen oder bauliche Bevorzugung von Eliten auf. Dies widerspricht dem lange dominierenden Narrativ, dass komplexe Siedlungen zwangsläufig soziale Stratifikation hervorbringen müssen. – Siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/Neolithische_Revolution#Sozialstrukturen ↩︎
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Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Mongolische_Kriegf%C3%BChrung#Aufbau_und_Organisation und auch https://de.wikipedia.org/wiki/Kurultai für erste Einblicke. Allerdings sind diese Wikipedia-Artikel nicht besonders ausgebaut. Abgerufen am 23.11.2025 ↩︎
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Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Trittbrettfahrerproblem – Der Begriff des „Trittbrettfahrers“ (free rider) wurde in der modernen Sozialwissenschaft vor allem durch Mancur Olson etabliert, insbesondere in The Logic of Collective Action (1965). Olson zeigte, dass Individuen in großen Gruppen dazu neigen, öffentliche Güter zu nutzen, ohne selbst beizutragen, sofern sie erwarten können, von den Beiträgen anderer zu profitieren. Robert Trivers hat das Phänomen später evolutionsbiologisch vertieft, indem er Mechanismen asymmetrischer Kooperation, Betrug und strategischer Vorteilnahme beschrieb – nicht als Ursprung, wohl aber als grundlegende biologische Erweiterung des von Olson theoretisch verankerten Problems. ↩︎
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Elinor Ostrom, Governing the Commons. The Evolution of Institutions for Collective Action, Cambridge: Cambridge University Press, 1990. ↩︎
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Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Trickster , abgerufen am 21.11.2025 ↩︎
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Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Böse – Zur Psychopathie und dissozialen Persönlichkeitsstörung siehe Robert D. Hare: Without Conscience: The Disturbing World of the Psychopaths Among Us (1993); James Fallon: The Psychopath Inside (2013). Hannah Arendt beschreibt in Eichmann in Jerusalem (1963) das Phänomen der Banalität des Bösen – Böses, das nicht aus dämonischer Absicht, sondern aus Gedankenlosigkeit und fehlender Urteilskraft entsteht. ↩︎
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Das ist die wörtliche Übersetzung von “Epimetheus” (epi = nach, metis = Gedanke/Weisheit) und kontrastiert passend mit Prometheus’ vorausschauendem (pro) Wesen. ↩︎
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Die Prävalenz intuitiven, vorrationalen Handelns wird durch moderne neurowissenschaftliche Forschung unterstützt. Kahneman und Tversky prägten mit ihrer “Dual-Process-Theorie” die Unterscheidung zwischen schnellem, intuitivem “System 1” und langsamem, deliberativem “System 2” Denken (Daniel Kahneman: Thinking, Fast and Slow, 2011). Antonio Damasio zeigt, wie Emotionen Entscheidungen vorstrukturieren, bevor bewusstes Nachdenken einsetzt (The Strange Order of Things: Life, Feeling, and the Making of Cultures, 2018). Jonathan Haidt demonstriert in seinem “Social Intuitionist Model”, dass moralische Urteile primär intuitiv gefällt und erst nachträglich rationalisiert werden (The Righteous Mind: Why Good People Are Divided by Politics and Religion, 2012). Lisa Feldman Barrett belegt in How Emotions Are Made (2017), dass affektive Reaktionen kognitiven Prozessen vorausgehen. Besonders relevant für soziale Ungleichheit: Paul Piff’s Forschung zeigt, wie privilegierte Positionen die Empathiefähigkeit reduzieren und selbstdienliche Verzerrungen verstärken (Piff et al.: “Wealth, inequality, and the self: How wealth influences perceptions of the self and others”, Current Opinion in Psychology 33, 2020, S. 112-117). ↩︎
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Michael Tomasello hat in seiner vergleichenden Forschung zur Moralentwicklung bei Kleinkindern und Menschenaffen grundlegende Erkenntnisse zur Evolution menschlicher Kooperation gewonnen. In Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral (2016) und Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese (Suhrkamp, 2020) zeigt er, wie Menschen eine einzigartige „geteilte Intentionalität“ entwickelten, die Kooperation ermöglicht, aber primär auf kleine Gruppen ausgerichtet ist. Seine experimentellen Studien belegen, dass bereits Kleinkinder Fairness-Intuitionen besitzen, diese jedoch stark kontextabhängig sind und primär innerhalb der eigenen Gruppe wirken. Tomasello argumentiert, dass unsere moralischen Fähigkeiten für den Umgang mit „Gesichtern“ evolviert sind, nicht für abstrakte globale Probleme. ↩︎
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Bibel, NT, Matthäus 25,29 ↩︎
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Pikettys r>g‑These wurde mit Le Capital au XXIe siècle erstmals 2013 (französische Ausgabe) systematisch und umfassend veröffentlicht; die weltweite Debatte setzte 2014 mit der englischen Ausgabe Capital in the Twenty‑First Century ein. ↩︎
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Zum – positiv besetzten – Begriff siehe https://thoes-koessel.de/mittel/als-dilettant/ ↩︎
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Helmut Creutz: Das Geld-Syndrom. Die Ursachen von Arbeitslosigkeit, Inflation und der sozialen Spaltung. Erstausgabe 1993; zahlreiche Neuauflagen und Überarbeitungen (u. a. 2001). (Zudem: Geld – Zustand und Zukunft. 2009.) – Neben ihm auch Bernd Senf und Margrit Kennedy hatten den Mechanismus populärökonomisch beschrieben. Siehe insbesondere: Bernd Senf: Der Nebel um das Geld. Zins, Schulden und Wachstumszwang. Gauke Verlag, 2001. (Weitere einschlägige Arbeiten: Die blinden Flecken der Ökonomie. Gauke Verlag, 2009.) – Margrit Kennedy: Geld ohne Zinsen und Inflation. Ein Vorschlag für eine krisenfreie Wirtschaft. Erstausgabe 1987; mehrfach überarbeitet und neu aufgelegt. (Englisch: Interest and Inflation Free Money. 1995; sowie Occupy Money. Creating an Economy Where Everybody Wins. New Society Publishers, 2012.) ↩︎
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Gemeint ist hier vor allem die Dynamik von Vermögensbeständen und Schuldenpfaden; reale Aggregate wie das BIP folgen anderen Zyklen, werden aber von diesen Finanzmechaniken überlagert. Vermögen und Schulden sind Bestände, die sich über Zeit durch Zins und Rendite kumulieren; das BIP ist ein jährlicher Strom aus Produktion und Einkommen, der eigenen Konjunkturzyklen folgt. Finanzmechaniken (Zinseszins, Kreditzyklus, Asset‑Preisinflation) überlagern diese realwirtschaftlichen Zyklen, weil sie Bestände unabhängig vom laufenden Output beschleunigt verändern. Anschaulich: Der BIP‑Strom kann moderat mit 1–3 % pro Jahr anwachsen, während Vermögenspreise (Häuser, Aktien) in einem Kreditboom um 10–20 % steigen – so wächst die Vermögensschere auch ohne entsprechenden Produktivitätssprung. Für Haushalte bedeutet das: Wer verschuldet ist, zahlt über die Laufzeit eines Kredits oft ein Mehrfaches der ursprünglichen Kaufsumme an Zinsen; diese regelmäßigen Schuldendienste sind dauerhafte Zuflüsse zu Vermögenshaltern und lassen deren Bestände weiter anwachsen. Unternehmen können Gewinne statt in Löhne oder reale Investitionen in Aktienrückkäufe lenken; das hebt Renditen und Kurse und vergrößert Vermögen oberhalb der Lohnentwicklung. Staaten schließlich transferieren mit der Zinslast Teile des Budgets an Gläubiger, selbst bei stabilem BIP. Bildlich: Das BIP ist der Fluss, der Jahr für Jahr vorbeiströmt; Vermögensbestände sind der See, der sich durch Zuflüsse aus Zinsen und Renditen schneller füllt; Schulden sind die Kanäle, die den Fluss umlenken – und so die Wasserstände im See (Vermögen) stärker verändern als die Fließgeschwindigkeit des Flusses (BIP). ↩︎
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Die sogenannten Magnificent Seven: Nvidia, Apple, Microsoft, Alphabet, Amazon, Meta Platforms, Tesla ; vgl. ^https://focus.world-exchanges.org/issue/august-2025/market-statistics, abgerufen Ende Oktober 2025] ↩︎
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UBS Global Wealth Report 2024 (Datenbasis 2023); World Inequality Database, Update 2024; Oxfam, Inequality Inc. (2024); Forbes Billionaires List 2024. Größenordnungen: globales privates Nettovermögen ~500–520 Billionen USD; Anteil Top 1 % ~38 % (WID 2024) bis ~43–45 % (UBS 2024); Anteil Top-10 % ~75–80 % (WID 2024; UBS 2024); Anteil Bottom-50 % ~1–2 % (UBS 2024; WID 2024); ca. 60 Mio. Dollar-Millionärinnen und -Millionäre (UBS 2024); 2 781 Milliardärinnen und Milliardäre mit zusammen ~14,2 Billionen USD (Forbes 2024; vgl. Oxfam 2024). ↩︎
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Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1993, S. 170: ↩︎
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Siehe u.a. ^https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/weisses-haus-ostfluegel-100.html , abgerufen am 01.11.2025] ↩︎
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Rent-Seeking bezeichnet das Abschöpfen von ökonomischen „Renten“ durch Marktmacht oder politisch erwirkte Privilegien (z. B. Zölle, Lizenzschranken, Lock‑in), statt durch produktive Wertschöpfung. ↩︎
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Vgl. unter vielen anderen das kürzlich (2025) erschienene Buch Wer soll was tun?: Warum wir nicht zum Klimaschutz verpflichtet sind und worin unsere Verantwortung eigentlich besteht von Frauke Rostalski – einer Professorin der Rechtswissenschaften mit ethischen Schwerpunkten, die seit 2020 Mitglied des Deutschen Ethikrates ist. Ihr konsequentialistischer Hintergrund wird deutlich, wenn sie in einem Interview das Eignungskriterium heraushebt: „Zentral für meine Argumentation ist das Eignungskriterium: Eine Handlung, zu der man verpflichtet sein soll, muss geeignet sein, das erklärte Ziel zu erreichen. Das gilt für beide Perspektiven, die ich in meinem Buch einnehme: die ethische und die rechtliche.“ Siehe ^https://www.philomag.de/artikel/frauke-rostalski-der-staat-fordert-den-nachhaltigen-konsumenten-das-ist-fast-schon, abgerufen am 10.10.2025. Frau Rostalski bringt, finde ich, bedenkenswerte Argumente, aber eben politisch–rechtlicher Art. Es ist jedoch wichtig, diese Sphären (Ethik / Politik / Recht) begrifflich auseinanderzuhalten. Ethik hat einen Sonderstatus. ↩︎
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Ich würde lieber von applied statistics reden wollen. Mehr ist es – zur Zeit jedenfalls noch – nicht. Heutige KI nutzt im Kern datengetriebene, statistische Verfahren, um Wahrscheinlichkeiten zu schätzen, Muster zu erkennen und Vorhersagen zu treffen. ↩︎
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Safiya Umoja Noble, Algorithms of Oppression, New York: NYU Press, 2018. ↩︎
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Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 1997, S. 135 ff.; sowie ders., Der Mensch in der Revolte, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 1996 (Orig. 1951), insbes. zur Revolte als bejahte Grenze des Menschseins und gemeinsames Maß, S. 395. ↩︎
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William Stanley Jevons, The Coal Question, London: Macmillan, 1865 – formulierte erstmals den sogenannten „Rebound-Effekt“ oder Jevons-Paradox. Vgl. ^https://en.wikipedia.org/wiki/Jevons_paradox , abgerufen am 21.11.2025. ↩︎
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Sunset‑Clauses zwingen zur regelmäßigen, kennzahlengestützten Erneuerung von Rechten/Programmen – sonst enden sie. ↩︎
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Anti‑Capture‑Regeln sichern, dass die Erneuerung (oder das Auslaufen) nicht von denjenigen manipuliert wird, die am meisten profitieren würden. ↩︎
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Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch II, 1106b–1107a. ↩︎
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Jeroen C.J.M. van den Bergh, A-Growth: The Path to a Sustainable Economy, Cambridge: Cambridge University Press, 2020. ↩︎
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Max Weber, Wissenschaft als Beruf, München: Duncker & Humblot, 1919, S. 20 ff. – Weber beschreibt die Entzauberung der Welt und die daraus resultierende Spannung zwischen Erkenntnis und Sinn. ↩︎