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„Dürfen wir sie töten?“

·1287 Wörter·7 min
Inhaltsverzeichnis

Diese Frage schnappte ich kürzlich aus einer Überschrift der Wochenzeitung Die Zeit auf. Vom Artikel selbst las ich kaum mehr als den ersten Absatz. Nur so viel: Er beschäftigte sich mit einer invasiven Krabbenart, der Chinesischen Wollhandkrabbe (Eriocheir sinensis), die sich seit ihrer Einschleppung – mutmaßlich per Ballastwasser von Frachtschiffen aus Fernost vor hundert Jahren – in Flusssystemen mit Salzwasseranschluss breit gemacht hat. Sie richtet aufgrund ihrer schieren Größe und mit einer Spannweite der Scheren von bis zu 25–30 cm vor allem durch ihre Grabaktivitäten große Schäden in Uferbereichen an und verdrängt kleinere Arten. Die Wollhandkrabbe gilt sogar, so las ich nach, als eine der 100 weltweit problematischsten invasiven Arten – und wird deshalb bekämpft.

Aber es war nicht dieses ökologische Problem als solches, was mich zum Nachdenken brachte, sondern die Titelfrage.

Und zwar insbesondere die Frage, ob wir sie töten dürften, ging mir nach.

Denn die Frage nach dem „Dürfen“ impliziert eine Autorität, die etwas erlaubt oder verbietet.

Können wir so noch adäquat moralisch fragen?

Worin sollte diese Autorität bestehen? Wem schrieben wir sie noch zu? Gott?

Und was, wenn ich an keinen Gott glaube? Wenn ich überhaupt keiner Instanz mehr einen Absolutheitsrang zugestehe?

Keine übergeordnete Instanz oder Entität, keine Religion, kein Staat, keine Tradition kann uns das Moralisieren und, vor allem, die daraus abgeleiteten Entscheidungen abnehmen.

Die eigentliche Frage lautet daher nicht, so machte ich mir klar, ob wir etwas dürfen, sondern ob wir es sollten. Nichts und niemand sagt uns, was zu tun sei.

Das hat Folgen.

Keine Autorität mehr, nur Orientierungspunkte
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Ohne göttliche Gebote, ohne naturgegebene Werte, ohne traditionelle Autoritäten - worauf könnten wir unsere moralischen Entscheidungen noch stützen?

Die Antwort liegt in unserer Fähigkeit zur rationalen Kommunikation und Reflexion, findet sich in unserer Fähigkeit zur begründeten Urteils- und Gewissensbildung – eine Fähigkeit, die sich in der Spannung zwischen individueller Reflexion und gemeinsamem Diskurs entfaltet. Dieses Gewissen ist weder absolute Instanz noch rein subjektive Stimme. Es entwickelt sich durch den Austausch von Argumenten, durch kritische Reflexion und durch die Fähigkeit, verschiedene Perspektiven einzunehmen.

Als Menschen vermögen wir miteinander – und mit uns selbst! – zu sprechen, Gründe auszutauschen und abzuwägen und schließlich zu Schlussfolgerungen zu kommen. Anscheinend als einzige Erdenbewohner bewegen wir uns in einem “Raum der Gründe”, wie der Philosoph Wilfrid Sellars es nannte – einem Bereich, in dem nicht überirdische oder irdische Autorität entscheidet, sondern jeder von uns, auf Basis von geteiltem Wissen, von Fakten, sowie der Qualität der Argumente.

Das bedeutet keinesfalls, dass wir vollkommen frei in unseren moralischen Entscheidungen wären. Das gerade sind wir beileibe nicht.

Als Teil der Natur sind wir biologisch und evolutionär geprägt und in gewisser Weise vorbestimmt. Selbst unsere Vernunft ist begrenzt, überlagert und durchdrungen von Körperlichkeit und Emotionen.

Diese Einsicht ist wichtig! Obwohl jede moralische Entscheidung Verbindlichkeit beansprucht, stoßen wir doch ständig an Grenzen. Das führt zu einer bescheidenen, realistischeren Form der Moral. Anstatt über ein mGPS (moral Global Positioning System) jederzeit unsere Position prüfen zu können, orientieren wir uns in ethischer Hinsicht wie Seefahrer in alter Zeit weiterhin an quasi-astronomischen Fixpunkten.

Es sind ihrer vier, die uns zum Guten navigieren helfen: die Fähigkeit zur reflektierten Selbstbestimmung, der Anspruch auf universale Geltung der Prinzipien, die Bedingungen der Natur und schließlich der Polarstern der Humanität.

Durch Selbstbestimmung vermögen wir, erstens, unsere so erstaunliche wie wunderliche Freiheit zu leben. Jede*r von uns entscheidet! Recht und Pflicht erscheinen als zwei Seiten desselben Sterns.

Zweitens müssen substantielle moralische Prinzipien so weit wie möglich den durchdringenden Strahlen des Universalitätsanspruches standhalten.

Drittens bleiben wir auf die ebenso Lebenswärme spendende wie überbordend unverständliche Natur angewiesen, ohne die alles nichts wäre.

Viertens schauen wir zum vielleicht verheißungsvollsten, doch auch fernsten und für uns am schwächsten leuchtenden Stern empor: zu dem, den wir Humanität nennen. Wir sehen ihn dank unseres Fernglases namens Kultur – wenn auch allenfalls erst Umrisse davon. Wenn man das erste Auftreten von Homo sapiens grob vor 500.000 Jahren annimmt, so liegt die Entdeckung dieses Sterns gerade einmal 5.000 Jahre zurück – gerade einmal ein Prozent unserer Menschenzeit. Unser Instrumentarium dafür gleicht dem Gerät des Simon Marius, der die vier Jupitermonde entdeckte – verkannt und unterschätzt, aber nicht minder bahnbrechend.1

Obwohl schon Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik (um 330 v. Chr.) die Ethik den praktischen Wissenschaften zuordnete, betonte er zugleich, dass von ihr nicht die gleiche Exaktheit erwartet werden könne wie von anderen Wissenschaften. Bis heute bleiben wir von den Standards, wie sie in den Naturwissenschaften erreicht wurden, weit entfernt.

Immerhin finden wir in den Denkbewegungen dieser wenigen Jahrtausende weitere vielversprechende Ansätze.

Pierre Abaelard (1079-1142) entdeckte den einzig wirklich plausiblen Ort alles Guten: in uns selbst! Aus unseren Absichten allein entspringt es.

In seiner Schrift ‘Erkenne dich selbst’ (Scito te ipsum) argumentierte er, dass nicht die äußere Handlung oder deren Folgen über gut und böse entscheiden, sondern allein die Absicht (intentio) des Handelnden. Eine Tat kann demnach nur dann als gut gelten, wenn sie aus der richtigen inneren Einstellung heraus geschieht. Damit nahm er zentrale Gedanken der späteren Aufklärung vorweg - etwa Kants Betonung des guten Willens als einzigem, was ohne Einschränkung gut genannt werden könne. Was bei Abaelard noch fehlte, obwohl er seiner Zeit Jahrhunderte voraus war, ist das Korrektiv durch außer-subjektive Gründe.

Adam Smith (1723-1790) sei hervorgehoben. Er sprach vom “unparteiischen Beobachter” in uns (the impartial spectator) - einer Art moralischem Zwilling, der unsere Handlungen aus der Distanz beurteilen hilft.

Der Universalitätsanspruch – in der gültigen Fassung des kategorischen Imperativs von Immanuel Kant (1724-1804) – folgt daraus: Was ich als richtig erkenne, muss grundsätzlich für alle gelten können. Während Kant dem Gedanken die gültige, doch oftmals zu gestrenge Form gab, behält er bei Smith – in der Tradition der schottischen Aufklärung – seine Menschlichkeit. Eine Erkenntnis, die bei Kant, aufgrund seiner systematischen Absolutheitsansprüche, zu kurz kommt, aber Ethik erdet.

Diese pragmatische Erdung zeigt sich auch im zweiten zentralen Begriff, mit dem Smith den Weg gewiesen hat: Die Grundlage aller Moral sei die naturgegebene Sympathy füreinander - die Fähigkeit, uns in andere hineinzuversetzen und ihre Perspektive einzunehmen. Sympathie und Empathie sind die Basis jeder moralischen Überlegung. Aus ihr erwachsen Toleranz und die Akzeptanz des Andersseins.

Unsere Natürlichkeit, sich manifestierend in Leiblichkeit, setzt diesem Streben allerdings Grenzen. Als biologische Wesen sind wir hochkomplex, emotional, triebhaft, insgesamt weitaus irrationaler als uns und dem Planeten gut tut. Die Evolution hat uns mit widersprüchlichen Neigungen ausgestattet - changierend zwischen einerseits Egoismus und zerstörerischer Willkür und andererseits dem Bedürfnis nach Kooperation und Erhaltung des Ganzen. Diese Spannung müssen wir aushalten und produktiv nutzen.

Kultur schließlich ist unser Versuch, über alle Beschränkungen hinauszuwachsen. Durch Sprache, Kunst, Wissenschaft und eben auch Moral erschaffen wir einen Raum der Möglichkeiten. Hier können wir gemeinsam nach dem Guten suchen - auch wenn wir es nie vollständig erreichen werden.

Zurück zur Krabbe
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Was bedeutet das nun für die Ausgangsfrage, ob wir diese Krabben töten dürfen?

Ich weiß nur: Die Antwort mündet weder in ein klares Ja noch ein Nein. Sie erschließt sich aus unseren Begründungsversuchen. Was wir tun sollten, erfordert einen intensiven Prozess des Austauschs und Abwägens: zwischen ökologischer Notwendigkeit und moralischer Verantwortung, zwischen Handlungsdruck und beständiger Reflexion darauf, wie wir uns als Menschen verstehen wollen.

Mit den einmal gefundenen Antworten darauf und den daraus folgenden Entscheidungen gestalten wir die Welt. Wir und nur wir zeichnen verantwortlich!


  1. Simon Marius (1573-1624). Er entdeckte die vier größten Jupitermonde fast zeitgleich mit Galilei, aber unabhängig von ihm. Die Namen, die wir heute für diese Monde verwenden (Io, Europa, Ganymed und Callisto), gehen tatsächlich auf Marius zurück. Galilei beschuldigte Marius des Plagiats und diskreditierte ihn in der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Erst Jahrhunderte später wurde Marius’ unabhängige Entdeckung anerkannt. - Überhaupt: Marius hatte, nicht zuletzt deswegen, ein schweres Leben: Er litt unter Krankheiten, finanziellen Schwierigkeiten und dem Verlust seines wissenschaftlichen Rufs durch Galileis Anschuldigungen. ↩︎