Zum Hauptinhalt springen

Annäherung

·5325 Wörter·25 min
Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung
#

Wer auf den folgenden Seiten eine abschließende Ethik erwartet, die alles sortiert und ordnet, einen festen Grund unter schwankende Zeiten legt, der wird enttäuscht werden. Und ich kündige das nicht aus Koketterie an.

Im Verlauf meiner Selbstverständigung zum Thema wurde mir zunehmend klar: Was ich zu erreichen hoffte, bekäme ich nicht. Ich wollte die Grundzüge einer zeitgemäßen, rationalen und allgemeinen Moral erfassen, eine, die begründbar, verbindlich und tragfähig strukturiert wäre. Doch dieses Ziel erwies sich als Illusion.

Vor allem meine Erwartungen an Rationalität zerschellten fast gänzlich: zunächst im Rückblick auf die Geschichte, schließlich an uns Menschen selbst. Die Lektüre einschlägiger Texte zur Ethik, von denen so viele und bedeutende das Ideal des vernünftig Handelnden hochhalten, vermochte meine Zweifel nicht zu zerstreuen; diese wuchsen eher noch unter der Lupe skrupulöser Nachfrage.

Die Hinweise, die ich zum Guten hin dennoch gebe, sind daher kaum mehr als Wegmarken, persönliche Orientierungshilfen in einer oft labyrinthisch anmutenden Morallandschaft.

Echte ethische Hindernisse vermag auch ich nicht aus dem Weg zu räumen; aber, so viel nehme ich doch in Anspruch, ich kann gelegentlich immerhin auf gangbare Umwege aufmerksam machen, die jedenfalls für mich zu funktionieren scheinen.

Ein Wort zu den historischen, literarischen und biographischen Bezügen, denen ich Raum gebe. Sie sind weder Beiwerk noch sollen sie den Gedankengang unnötig barockisieren. Sie sind für mich der notwendige Resonanzraum, durch den unser heutiges Fragen nach Moral überhaupt erst einen Klang bekommt.

Moral, davon bin ich überzeugt, ist immer auch Erinnerungsarbeit und Dialog – mit jenen, die vor uns gelitten, gehofft, gedacht, geträumt, gelebt haben.

Wem das zu altbacken bildungsbürgerlich erscheint, der sei ausdrücklich ermuntert, sich selbst auf die Suche nach Gutem zu begeben.

Und wer mir widersprechen möchte, tue es: Nur zu! Ich halte Widerspruch für einen Antrieb und für wünschenswert – sofern er maßvoll und mit Duldsamkeit vorgetragen wird und, ganz wichtig, sich seinerseits neuem Widerspruch öffnet.

Wer mir aber gedanklich so gar nicht folgen mag, muss es natürlich auch nicht. Jede/r kann, niemand muss diesen Weg hier mitgehen.

Schlimmer als gedacht
#

„Wie kann, wie muss man sich, nachdem die religiöse Begründung entfallen ist, zur Ethik stellen?“1

So fragte Ernst Tugendhat in seinen Vorlesungen über Ethik und bezeichnete das als „Hauptfrage“ zeitgenössischer Ethik. Aber Tugendhat, von dem ich sehr viel gelernt habe, sprang damit, meine ich, zu kurz.

Seine Frage verengt zu sehr und untertreibt Umfang und Ernst der Lage.

Die eigentliche Frage sollte lauten:

Wie können wir gut handeln, wenn jede absolute Verankerung obsolet geworden ist?

Der Verlust jeglicher Letztverbindlichkeit, nicht nur, doch ganz besonders in moralischen Fragen, zeigt sich auf vielen Ebenen, nicht nur der religiösen.

In globaler Perspektive macht allein schon die Tatsache konkurrierender Kulturen und Wertesysteme jede übergreifende Antwort fragwürdig.

Auf individueller Ebene zersplittern ethische Theorien vollends.

Viele Menschen reagieren auf die Uneindeutigkeit der Verhältnisse paradox: Einerseits verteidigen sie zunehmend ihre unmittelbaren Eigeninteressen, anstatt sich der Komplexität und dem Menschsein als solchem zu stellen. Andererseits vertrauen sie sich allzu schnell externer Führung an, wenn diese nur forsch genug auftritt. Die Sehnsucht nach Orientierung und Ordnung scheint viele geradezu um den Verstand zu bringen.

Die Krise wird durch die nicht minder beunruhigenden Erkenntnisse der empirischen Anthropologie der letzten Jahrzehnte bestätigt: Menschen handeln tatsächlich weit weniger rational, als traditionell unterstellt wurde. Das gilt für den Alltag, aber verstärkt noch im Stress. Selbst, wo vernünftiges Handeln im eigenen Interesse läge, folgen Menschen eher irrationalen Impulsen.

Dieses systematische Versagen rationaler Entscheidungsfindung, ja des gesunden Menschenverstandes, stellt ethische Konzepte grundlegend in Frage. Denn wozu sollten wir solche entwickeln, wenn sich anscheinend kaum jemand daran hält; mehr noch: aus vielerlei Gründen nicht halten kann? Diese Herausforderung wird zunehmend erkannt.2

Stand der Dinge – seit 100 Jahren
#

Es hilft, den Blick zu heben und über den Tellerrand der Tagesaktualität zu schauen. Wer meint, wir stünden erst neuerdings vor nie gesehenen Problemen, täuscht sich. Das Durcheinander, durch das wir taumeln, hat eine Vorgeschichte. Und diese allein kann uns erklären, was geschieht – getreu dem hellsichtigen Wort William Faulkners:3

„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen."

Das ist eine unbequeme Wahrheit: Solange Leben ist, wirkt Geschichte fort – unabhängig davon, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht.

Blicken wir daher zurück! So wird deutlich, dass der gegenwärtige Zustand schon lange währt und mit Verlust oder Desorientierung nur ansatzweise umschrieben ist; dass es vielmehr tiefer geht, viel tiefer.

Die Menschen erkennen einander kaum mehr als Menschen.

Es kann von daher kein nostalgischer Rückblick werden. Im Gegenteil.

Vergangene Katastrophen, alte Fehler: Sie wiederholen sich, wenn wir ihrer nicht in aller Bewusstseinsschärfe gewahr werden.

Auch wenn die Versuchung groß ist, sie abzuschütteln, Vergangenes zu verdrängen, so riskierten wir damit in gewisser Weise unser Menschenleben; wir riskieren die De-humanisierung.

Als Kron- wie als Zeitzeuge dafür dient mir Robert Musil (1880-1942). In seinem Essay Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste von 19224 reflektiert er auf die umstürzende Erfahrung des Ersten Weltkriegs. Eindrücklich beschreibt er die Verfallssymptome und trifft auch heute noch, ein Jahrhundert später, damit ins Schwarze.

Der Verlust des moralischen Kompasses im europäisch-christlichen Kulturraum wurde durch den Kriegsausbruch unübersehbar. Selbst wenn es diesen noch gegeben hätte – niemand hätte ihn mehr konsultiert. Die Ereignisse verselbstständigten sich. Und dies ausgerechnet nach dem vermeintlichen Höhepunkt aufgeklärter Ethik und insbesondere Immanuel Kants Moralphilosophie, die das Jahrtausend feudaler Willkürherrschaft so glänzend überwunden und eine Epoche zur Humanität geöffnet zu haben schien.5

Allein schon darin, dass dieser Erste Weltkrieg sich ereignete, und mehr noch darin, wie er verlief und geführt wurde, verriet sich die heillose Verlorenheit sowohl der „Masters of war“ als auch großer Teile der Bevölkerung, Durchschnittsmenschen, von denen anfangs, im Jahr 1914, nicht wenige mit Begeisterung und Schellengeklingel in Tod und Verderben zogen.

„Ein andres Kennzeichen [dieser Ignoranz]“, so Musil, außer dem „völligen Gewährenlassen […] gegenüber den an der Staatsmaschine stehenden Gruppen von Spezialisten […] war der Umfang, den die Katastrophe sofort annahm. Dieses plötzliche, ungeheure Umsichfressen des Feuers erscheint nur möglich, wo alles vorbereitet war und sich nach Erdbeben, Feuersbrunst und Gefühlsstürmen sehnte; wer den Ausbruch des Kriegs in voller Stärke erlebt hat, versteht ihn als die Flucht vor dem Frieden.“

Musils schonungslose Benennungen – Flucht vor dem Frieden, Sehnsucht nach Erdbeben, Feuersbrunst und Gefühlstürmen – bezeichnen das Ausmaß und die Tiefe der moralischen Krise unerbittlicher als jeder schlichte Verweis auf Wertezerfall und religiöse Entwurzelung.

Jede moralische Einsicht, mit ihr jede Humanität, wurde in diesem alles und jeden verschlingenden, vier Jahre währenden Weltkrieg zerschossen, verbrannt, vergiftet, untergepflügt. Alle verfügbaren wissenschaftlichen, technischen, personellen und organisatorischen Ressourcen wurden der Zerstörung untergeordnet. Der Einzelne galt auf den Schlachtfeldern nichts. Menschenwürde, Menschenrechte, selbst die viel beschworene Soldatenehre verloren jede Bedeutung, jeden Wert. An ihre Stelle traten abstrakte Ideologien, Ismen aller Art: Nationalismus, Imperialismus, Kommunismus, Rassismus. Als ob das nicht genug gewesen wäre, mündeten diese nur wenige Jahre später in der Hölle des Holocaust. –

Gleichwohl, der moralische Bankrott ist nicht allein mit dem Verlust religiöser Gewissheiten und der Gewalt der Geschichte zu erklären.

Neben der von mir ins Zentrum gerückten kulturhistorischen Entwicklung und der Betonung anthropologischer Konstanten gibt es weitere gewichtige Faktoren, die in der Aufarbeitung der letzten Jahrzehnte aufgetaucht sind. Ich möchte nicht genauer darauf eingehen.

Nur der Vollständigkeit halber seien einige angedeutet: Die fortschreitende Individualisierung und die damit verbundene Auflösung einheitlicher Werte wie überhaupt die unaufhaltsame gesellschaftliche Fragmentierung, Pluralisierung und Globalisierung. Die unter dem Banner der Rationalität sich monströs entpuppenden bürokratischen und technologischen Systeme, in deren Gefolge jedoch individuelle Verantwortung sich auflöst. Das Eindringen ökonomischer Logik bis in die intimsten Lebensbereiche. Das mittlerweile allgegenwärtige Getwitter in den digitalen Kommunikationswelten, in deren Atemlosigkeit moralische Orientierungsversuche und Gewissensarbeit kaum noch gelingen kann.

Haben wir aus der Geschichte gelernt?
#

Die Katastrophe, sich entladend in den Stahlgewittern (Ernst Jünger)6 der Artilleriegefechte und den heimtückischen, erstmals in der zweiten Flandernschlacht von Ypern (1915) eingesetzten Chlorgasen,7 hatte sich in den Friedenszeiten zuvor schleichend aufgebaut.

Was sich dann jedoch entfaltete, war mehr als die bislang ‘übliche’ Grausamkeit des Krieges, welche von altersher ‘vertraut’ war. Der Erste Weltkrieg schon, und dann der Zweite, markieren in ihrer Unmäßigkeit eine epochale Zäsur. Sie prägten Generationen, fraßen sich in die Seelen.

Die Donnerschläge der ‘dicken Berthas’, der ‘langen Maxe’ und anderer makaber verniedlichend benannter Geschütze8 – immerhin Sinnbild dessen, was die Himmelskuppel christlicher Kultur zum Einsturz brachte – hallen bis in die Gegenwart. Wir sind nur taub geworden und nehmen sie kaum mehr wahr.

Der heute verdrängte Erste Weltkrieg besiegelte einen lange schwelenden historischen Prozess der De-Humansierung.

Sollten wir das mit bloßem Schulterzucken abtun?

Ich hielte das für mehr als fatal.

Wäre es nicht – endlich – geboten, aufzuwachen und uns zu erinnern? Uns der Verluste bewusst zu werden? Den Schmerz nicht zu verdrängen? Ernsthaft nach Lösungen zu suchen? Wir müssen dieser Benommenheit entkommen.

Auch auf die Gefahr hin, zu scheitern.

Kennen wir es nicht alle? Man sitzt beisammen, tauscht Höflichkeiten und lacht miteinander, und gleichzeitig ist da ein Schweigen, wenn es um die wirklich entscheidenden Fragen geht, ein Tabu,9 nämlich darüber sich ernst- und gewissenhaft auszutauschen, was wirklich wichtig ist. Wir thematisieren die apokalyptischen Reiter der Moderne nicht: Erosion demokratischer Kultur, Freiheitsverluste, möglicher (Atom-)krieg, Klimakrise, Artenschwund, Ressourcenverschwendung.10 Wohl alle ‘machen sich ihre Gedanken’; behalten sie dann aber für sich.

Wir alle, individuell und im Kollektiv, müssen, meine ich, unsere Komfortzonen verlassen. Wahre Bildung, eine, die uns miteinander zu leben hilft, ist nichts, was man kaufen und konsumieren könnte. Sie muss erarbeitet, erfahren, auch erlitten, werden.

Wir müssen uns außerdem erinnern: als einer Übung, mit Verwerfungen, Unsicherheit und Nicht-Wissen umzugehen; als Ermunterung zu fast vergessener moralischer Disziplin; zur Stärkung verschütt gegangener Urteilskraft.11 Mehr als fünftausend Jahre der Zivilisierung und der Schrift bieten hierzu einen reichen Fundus. Aktiv die Erinnerung wach zu halten ist nötig, damit Bildung segensreich wirken kann.

Nur wer die steinigen und steileren Wege nicht scheut, nähert sich vielleicht dem, was es (wieder) zu erreichen gilt: der Menschlichkeit; dem, was Rettung verspricht in größter Not.

Ausblick: Zumutung — und Chance
#

Auch ein Jahrhundert später bleibt Musils Blick auf das Geschehen bedrückend gegenwärtig. Die seelischen Verheerungen, die er beschrieb, sind nicht überwunden – im Gegenteil. Es ist, will mir scheinen, als brodelte es vulkanisch unter der dünnen Kruste der Zivilisation.

Oberflächlich ist Moral keineswegs verschwunden. Nein, ganz und gar nicht. Die öffentliche Kommunikation ist durchtränkt damit: Skandale, Empörungen, “Cancel Culture”, anklagende Debatten, öffentliche “Hinrichtungen” – sie sind wie täglich Brot und nichts anderes als der Beweis, dass es zumindest ein Bedürfnis danach gibt, einzuordnen, zu bewerten und zu sanktionieren, wenn jemand sich danebenbenimmt.

Und doch erleben wir in Wahrheit nur eine Art Moralinflation, sodass die ‘Kaufkraft’ - nämlich mittels Prinzipien und Werten Orientierung zu bieten - nurmehr äußerst gering ist.

Was verschwunden scheint, ist die Bereitschaft, nicht nur rhetorisch Moral vor sich herzutragen, sondern sie im Alltag tatsächlich zu leben – diese lästige, doch unumgängliche Zumutung, an der fast alles andere hängt.

Das nämlich ist der eigentliche Gorilla im Raum,12 den alle so geflissentlich übersehen: Es ist nicht der Mangel an Moral, sondern die Tatsache, dass so viele sich der radikalen Selbstprüfung und der damit verbundenen Verantwortlichkeit konsequent entziehen.

Die überwältigende Komplexität der Welt wird gemieden oder geleugnet. Bequemlichkeit und Eigennutz dominieren gegenüber der Suche nach und der Umsetzung von guten Gründen. Moral wird als Waffe im Meinungskampf geführt, aber zu selten als Zumutung an jede/n einzelnen verstanden oder als Aufforderung zur gemeinsamen Verständigung ausbuchstabiert.

Unterdessen haben die Herausforderungen eine neue Dimension angenommen. Nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts stehen wir im 21. Jahrhundert vor Krisen, die nicht mehr einzelne Regionen und Länder, sondern den Planeten und die Menschheit insgesamt betreffen, und zwar menschengemacht: Klimakatastrophe, Artensterben, Ressourcenknappheit sind einige der Stichworte. Deren Auswirkungen schleichen sich in unser Leben, erschüttern Grundgewissheiten und verlangen nach einer Reaktion. Jede/r Einzelne müsste eigentlich reagieren, denn alle sind betroffen.

Und was beobachten wir stattdessen? Immer noch das Gleiche wie Robert Musil: jene „erstaunte Unruhe“, dieser Ausdruck für die seelische Taubheit und für ein Unvermögen zu echter Urteilskraft – eine moralische Lähmung, die unser Intimstes, das Gewissen, betrifft.

Es ist dysfunktional geworden, unser Gewissen.

Das muss ich erklären.

Gewissen erstarren anscheinend in extremen Situationen – also gerade dann, wenn es besonders auf sie ankäme. Nicht bei allen, aber bei denjenigen, die Musil Durchschnittsmenschen nannte. Diese verweigern sich der Konfrontation mit der Realität, weil ihnen, wie Musil erkannte, “die Begriffe fehlen, um das Erlebte in sich hineinzuziehen”.

Hannah Arendt hat diesen Gedanken auf ihre Art präzise fortgeführt. Am Beispiel Adolf Eichmanns, des SS-Obersturmbannführers und Hauptverantwortlichen für die Logistik des Holocaust, zeigte sie, wie mangelnde Genauigkeit im Denken und Fühlen zu moralischer Blindheit führt. Ihr Imperativ des Hinsehens und Musils Forderung nach Genauigkeit der Seele13 treffen sich in der Erkenntnis, dass ohne geschärfte Wahrnehmung, ohne präzise Begriffe es kein moralisches Handeln gibt.

Durchschnittsmenschen verweigern sich der Realität, wenn Wirklichkeit ihnen zu quer kommt und unbequem wird. Sie schauen nicht mehr genau hin und suspendieren ihr Gewissen von der Konfrontation mit Zuständen, die den Alltag stören. Sie nehmen buchstäblich nicht mehr für wahr, was sich ihnen darbietet. Es steckt nicht einmal ein böser Wille oder gar der Teufel selbst dahinter, sondern ‘nur’ Realitätsflucht. Es ist die Arendt’sche Weigerung, hinzusehn.

Arendt war es, die schließlich diese Versteinerung der moralischen Urteilskraft auf den paradoxen Begriff der Banalität des Bösen brachte.

Verdienstvoll entlarvte sie die stereotype Berufung der Täter auf Pflichterfüllung als die fundamentale Schwäche des traditionell gebildeten Gewissens: die Neigung zu gedankenloser Hörigkeit durch Auslagerung der moralischen Verantwortung an irgendwelche Fremdinstanzen, seien es Gott und Kirche, Sitte und Tradition oder Autoritäten und Ideologien.

Im Gehorsam und in Banalisierung sich einzurichten, kommt offenbar vielen Menschen entgegen. Man denke an das Phänomen der Mitläufer.

Dazu passt, dass diese ‘Bequemlichkeit’ tiefreichende evolutionäre Wurzeln hat - wie moderne Erkenntnisse mittlerweile vielfach belegen und worauf ich im Folgenden noch näher eingehen werde. Als ob Menschen gewissermaßen von Natur aus verdammt wären, böse zu handeln, und sei es vermittelt über Führer, zu denen sie aufschauen und denen sie nachlaufen. Denen sie die Verantwortung zuschieben, wenn es schief geht.

Doch der Versuch der Delegation von Verantwortung hat ihren Preis: Gewissen erfüllen ihre Aufgabe nicht mehr, bis hin zur Versteinerung; Gefühle der Verantwortlichkeit vertrocknen.

Traditionell wurde ›das Gute‹ als etwas Gegebenes, Statisches missverstanden. Eingeschmuggelt in die Seele wie ein trojanisches Pferd, um Göttern, gottgleichen Pharaonen, Jahwe, Gott und Kirche, dem Führer, dem Universum Einlass in das Innerste zu gewähren. Das Gewissen war sozusagen der Ort, von dem aus Herrschaft ausgeübt werden konnte. Und die Menschen ließen sich das, offenbar allzu bereitwillig, gefallen. Es entlastete.

Doch das Gegenteil ist wahr: Wer meint, ein gutes Gewissen zu haben, hat es bereits verloren.

Denn nur wo beständig Zweifel nagen, wo moralische Einstellungen immer neu justiert werden, wo die argumentative Auseinandersetzung als Prüfstein für das eigene Denken gesucht wird – nur dort kann von Gewissen und, in der Folge davon, kann von humanem Handeln die Rede sein. Ein gutes Gewissen kann nicht ein für alle Mal besessen, sondern muss aktiv kultiviert werden. Von jedem und jeder Einzelnen. Diese Einsicht wiegt heute, wo es keine absolut und allgemein anerkannte moralische Instanz mehr gibt – noch geben kann! –, besonders schwer.

„Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!“14

Diese berüchtigte Feststellung Nietzsches war und ist keineswegs die triumphale Diagnose, als die sie manchen erscheint; sondern vielmehr eine zutiefst verstörte.

Und doch birgt sie in sich schon einen Hinweis auf die mögliche Therapie:

Nämlich alles daran zu setzen, erwachsen zu werden! Sich dem Leben in gelebter Verantwortung zu stellen – und zwar dem Leben, wie es ist. Und nicht, wie man es gerne hätte.

Darin liegen die Chance und die Herausforderung! Nie kam es mehr auf uns selbst an. Nie zuvor war Moral als das, was uns miteinander zu verbinden vermag, wichtiger. Nie zuvor waren wir alle, jeder Einzelne, mehr gefragt, aktiv dazu beizutragen. Nie war es nötiger, sich auszutauschen.

Eigentlich müssten wir – WIR ALLE – alles daran setzen, erwachsene moralische Maßstäbe zu entwickeln – bevor uns die Dinge gänzlich aus dem Ruder laufen. Wir müssten, individuell wie kollektiv, uns ein Gewissen erarbeiten, das der Realität standhält. Und es pflegen.

Diskurssimulationen und immergleiche Muster
#

Betrachten wir den gegenwärtigen Zustand des öffentlichen Diskurses. Die Menschen tauschen sich zwar unablässig aus, unsere Gesellschaft brummt davon geradezu wie ein Bienenstock – aber dieser Austausch bleibt oberflächlich.

Endlose Gesprächsrunden, Talks, Analysen, Kommentare, Empörungswellen bewirken keine Verständigung und noch weniger Einheit. So viel Kommunikation dreht leer oder wirkt eher destruktiv. Nicht ohne Grund empfinden viele das folgerichtig als enervierendes Gerede, als kraftzehrende Streiterei. Und schalten ab. Was uns in Humanität einen sollte, scheint paradoxerweise uns auseinander zu treiben.

Wieso lassen so viele das zu?

Denken wir noch einmal an Hannah Arendts Befunde.

Sie beschrieb das Böse als die im Kern gedankenlose Ausführung von Anweisungen, als bestenfalls naiven Gehorsam.

Vielleicht sind die modernen Formen der „Banalität“ nur lauter, wusliger geworden; der Kern jedoch, Gedankenlosigkeit, ist geblieben. Eine am Ende gar nicht so neue Verantwortungslosigkeit, nur eben im digitalen Kleid.

Wenn jemand etwas „geliked“, „geshared“ oder „kommentiert“ hat, kann er sich einbilden, damit Stellung zu beziehen – tatsächlich aber wird bloß der allgemeine Meinungsstrom gestärkt, das Lager der Jasager vergrößert. Echte Gewissen bilden sich dadurch keine mehr. Was sich so nennt, bleibt von der Resonanz im Echoraum abhängig.

Das bedeutet: Was viele für eine persönliche moralische Haltung halten, ist in Wirklichkeit nur ein Reflex auf die Zustimmung oder Ablehnung, die sie von ihrer jeweiligen Community erfahren. Statt moralischer Überzeugungen ergeben sie sich Stimmungen, die vom sozialen Umfeld getragen oder verworfen werden. Das individuelle Gewissen speist sich zunehmend weniger aus eigener moralischer Überzeugung als vielmehr aus Rückmeldungen der jeweiligen “Echokammer”, in der sich eine Person hauptsächlich bewegt. Da ist keine Eigen- und Widerständigkeit mehr.

Nirgendwo zeigt sich heute diese Versteinerung der Gewissen und der Rückfall in eine Welt instinktgesteuerten Verhaltens alltäglicher als in den Social Media oder den Kommentaren selbst seriöser Zeitschriften im Internet. Statt miteinander um Genauigkeit zu ringen und die Lösungen zu suchen, die so dringend nötig wären, verrohen Menschen und Sprache. Chats versinken, durch Aufmerksamkeit steuernde Algorithmen verstärkt, in Niedertracht und Hass. Aus Meinungsgegnern werden Feinde, die anzugreifen und niederzumachen sind. Noch mehr Likes und Shares sind der Lohn.

Argumentation und kultivierter Disput weichen zunehmend der Zerstörung, besonders gegen jene, die widerständig bleiben und sich keiner Gruppe unreflektiert verpflichten wollen.

Immer weniger werden die Chancen gesehen, die sich doch trotz allem eröffnen – und noch weniger werden sie genutzt.

„Wer nicht für mich ist“, geht anscheinend die Parole, „ist gegen mich.“15

Ein wahrhaft kläglich christlicher Rest, der darin dann doch noch, elend pervertiert, nachklingt.

Einmal bezogene Standpunkte werden trotzig gegen jede Evidenz verteidigt; wissenschaftliche Erkenntnisse werden verlacht und Fakten werden nach Belieben ignoriert, verdreht oder schlicht geleugnet.

Aber auch das ist nicht so neu.

„Der Geist der Tatsachen und der Zahlen“, nahm schon Musil wahr, „wird bekämpft - traditionell und kaum mehr der Gründe bewußt -, ohne daß man ihm mehr als die Negation entgegensetzt.“

Wer bei den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen – im Arendt’schen Sinne – hinsieht, erkennt erschreckend vertraute Muster. Duckmäusertum, vorauseilender Gehorsam, das reflexhafte Mitlaufen in der Masse: Sie sind offenbar keineswegs Relikte vergangener Diktaturen, sondern tauchen mittlerweile sogar in der Vorzeigedemokratie schlechthin, den USA, auf. Ganze Behörden werden einfach ‘geschlossen’, Universitäten werden ‘ent-gendert’ und aufgefordert, ihre Archive und Texte zu ‘säubern’; Spitzenwissenschaftler verlassen unter Protest ihre Universität und das Land; offizielle Urteile werden öffentlich diskreditiert und es werden - man mag es für die USA nicht glauben, obwohl es glaubhaft berichtet wird - sogar Richter vom Präsidenten der Vereinigten Staaten persönlich bedroht.16

Natürlich unterscheiden sich die historischen und gesellschaftlichen Kontexte im Detail, doch die Phänomene ähneln sich auf verschreckende Weise. Erinnerungen werden wach, nicht nur an die Zeit des Nationalsozialismus. Die jeweiligen Inhalte und Parolen wechseln, der Mechanismus bleibt: Die Masse schweigt, vollzieht gewissenlos oder glaubt wahrscheinlich, ohnehin nichts ändern zu können.

Ernüchternd entpuppt sich die anthropologische Konstante: Es hat sich im Kern wenig geändert, weil der Mensch sich nicht ändert.

Gerade das aufklärerische Versprechen, dass rationale Gesellschaften immun gegen Konformismus, Feigheit und Selbstzensur werden könnten, erweist sich einmal mehr als trügerisch. Immer noch geraten Urteilskraft und moralische Courage in Bedrängnis, sobald neue kollektive Dogmen oder Hysterien eine kritische Masse erreicht haben.

„Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“17

Diese berühmte Sentenz Bertolt Brechts gilt.

Moralische Zersplitterung und die Suche nach Einheit
#

Der moralische Katholizismus - hier im ursprünglich-griechischen Sinne von “allumfassend”18 - ist zersplittert in konkurrierende Moralen. Alle glauben sich auf der richtigen Seite. Immer weniger Menschen jedoch schauen sich die andere Seite überhaupt erst an. Man richtet sich ein in ‘Gesinnungsblasen’. Dialoge, sofern welche stattfinden, werden unfruchtbar, wenn Bunkermentalität um sich greift.

So herrscht an einem Ende des Spektrums eine relativierende, nur scheinbar liberale Toleranz, die in ihrer Beliebigkeit alles durchgehen lässt, aber eigene Interessen fest im Blick behält; während am anderen Ende sich selbsternannte Moralwächter verschiedener Prägung finden:

  • die Moralisten, die zu wissen glauben, wie alle sich verhalten sollten - und es diesen auch sagen;

  • die Esoteriker, die sich – getreu der ursprünglichen Wortbedeutung - in vermeintliches Exklusivwissen zurückziehen;19

  • die Verschwörungstheoretiker, die aus dem unbegreiflichen, komplexen Gewirk der Welt grotesk grobe Deutungsmuster stricken;

  • und schließlich die Fanatiker, die ihre eindimensionalen Wahrheiten auch mit Gewalt durchsetzen.

Die Suche nach einfachen und einfachsten ‘Lösungen’ führt in Meinungslagern zusammen und lässt ideologische Festungen errichten.

Anstatt die Chancen zu sehen, spüren die Menschen offenbar nur eine existenzielle Haltlosigkeit. Es fällt ihnen zunehmend schwer, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden, geschweige denn so etwas wie eine beruhigende ‘Moral von der Geschicht’ zu finden.

Und so treiben sie, im Banne allgegenwärtiger Schein- und Desinformation, von einem Aufreger zum nächsten. Ihre diffusen Gefühle, die kaum noch ›moralisch‹ zu nennen sind, wogen zwischen Empörung und Schuldgefühlen hin und her - wie Treibgut auf einem Meer der Beliebigkeit, unverstandenen Kräften ausgesetzt.

Wie aus zunehmender Dämmerung erscheint da im Rückblick Rilkes mahnender Aufruf von 1908 - sechs Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Er schrieb diese Zeilen angesichts einer antiken Skulptur, die zeitlos selbst als Fragment noch strahlt:

[…] denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.20

Mittlerweile ist es finster geworden. Auf die erste Katastrophe folgten weitere.

Worauf warten wir? Auf die ultimative, die alles verschlingt? Auf den finalen Kollaps unserer Zivilisation durch Klimawandel, Artensterben, Ressourcenerschöpfung? Auf einen dritten Weltkrieg mit Atomwaffen? Oder auf das Ersticken der Menschlichkeit?

Ja, wir befinden uns tatsächlich im Zustand sehr erstaunter Unruhe. Musils Beschreibung gilt unverändert.

Des Dichters Fingerzeig
#

Musils zentrale Frage erscheint daher brennender denn je: Was können wir gegen die drohende zivilisatorische Kernschmelze unternehmen? Was müssen wir aus den moralischen Bankrotterklärungen lernen?

„Darauf gibt es, glaube ich, nur eine Antwort: Wir besaßen nicht die Begriffe, um das Erlebte in uns hineinzuziehn.“

Folgen wir Musils Fingerzeig! Lassen wir ihn einen Augenblick wirken. Er erscheint zunächst zu simpel - er enthält aber den Schlüssel:

Ohne Begriffe schaffen wir es da nicht mehr heraus! Nur durch sie können wir sowohl intellektuell verstehen als auch emotional verarbeiten, was geschieht. Nur Begriffe könnten uns retten.

Diese Einsicht ist von bestürzender Aktualität. Wir benötigen Begriffe, um Realität erlebbar zu machen.

Musil hat Recht. So paradox der Satz klingt – er erfasst das Wesentliche, falls man ihn richtig versteht: im Zusammenhang nämlich seiner beiden Teile.

Nur wer beides, Rationalität und Emotion, in eins nimmt, geht entschieden über Immanuel Kant und damit über die Tradition, auf die der belesene Musil wohl anspielt,21 hinaus.

Während Kant Begriffe primär als Werkzeuge der Erkenntnis verstand, sah Musil in ihnen eine Brücke: zwischen Denken und Fühlen, zwischen Verstehen und Erleben - und nicht zuletzt: zwischen Menschen.

Gewiss, Begriffe erhellen uns ein wenig die Welt an sich, von der Kant sprach. Sie bohren gleichsam Tunnel, an deren Ende Wirklichkeit aufscheint - jene Wirklichkeit, von der wir doch so wenig wissen, obwohl wir aus ihr hervorgehen und Teil von ihr sind.

Doch Begriffe leisten mehr: Sie machen Realität fühlbar und verwandeln diffuse Gefühle erst in Erfahrung. Nur mit ihrer Hilfe können wir hoffen, das Erlebte zu verstehen.

Passende Begriffe erschließen uns nicht nur die Welt – sie wappnen uns gegen Irrtümer und Täuschungen.

Erst wenn wir das geschafft haben, wenn wir das Erlebte wirklich in uns aufgenommen haben, kann die nötige Courage erwachsen und mit ihr der Wille, die Dinge zum Besseren zu wenden – der eigentliche moralische Impuls.

Darauf müssen wir bauen. Nie war es existenziell wichtiger, ja überlebenswichtig, zu begreifen, was ›gut‹ ist.

Ich beharre darauf: Wir müssen aktiv suchen, was gut ist, es finden und in unsere und unserer Kinder Herzen pflanzen – in der Hoffnung, dass es gedeiht.

Denn was bleibt uns sonst? Wollen wir wirklich als Spezies versagen? Wollen wir von der Erde getilgt werden wie die anderen Hominine, die kamen und gingen? Wollen wir, bestenfalls, zurückgeworfen werden in archaische Lebensformen? Wollen wir mit uns das wahrscheinlich einzige Wesen der Milchstraße - vielleicht des gesamten Universums - aufs Spiel setzen, das dessen ungeheuerliche Wunder nicht nur bestaunen und begreifen, sondern auch lieben und - gelegentlich - verfluchen kann? Um nichts weniger geht es.

Die Möglichkeit des Scheiterns ist real. Wir sind, wie Europa vor dem Ersten Weltkrieg, nun tatsächlich global an einem Punkt angelangt, wo wir uns entscheiden müssen und sollten - und zwar dieses Mal zum Guten!


  1. Tugendhat, Ernst: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S. 13 f. ↩︎

  2. Allerdings noch nicht unbedingt in jeder philosophisch-ethischen Diskussion. Diese scheint mir überwiegend noch zu stark auf Rationalität gepolt. Empirische Hinweise, dass der Mensch einfach nicht so ist, wie viele ihn gerne sähen, werden immer noch nicht ausreichend zur Kenntnis genommen. ↩︎

  3. William Faulkner: Requiem for a Nun. New York: Random House, 1951, S. 73 (englisches Original). „The past is never dead. It’s not even past.“ – Requiem für eine Nonne, übersetzt von Annemarie Horschitz-Horst, Reinbek: Rowohlt, 1959, S. 85. ↩︎

  4. In: Gesammelte Werke. Hg. von Adolf Frisé. Bd. 8: Essays und Reden, Hamburg: Rowohlt, 1978, S. 789–803. ↩︎

  5. Im Grunde setzte dieser Prozess schon viel früher ein, lange vor Kant. Die zahlreich und vielfach im “Abendländischen” dokumentierten Bemühungen ab dem 17. Jahrhundert, alltägliche, christliche Moral philosophisch zu ersetzen, sprechen für sich. ↩︎

  6. Vgl. in der Wikipedia: In Stahlgewittern ist das erste Buch Ernst Jüngers. Es beschreibt seine Erlebnisse an der deutschen Westfront von Dezember 1914 bis August 1918. Das Buch begründete in den 1920er Jahren Jüngers Ruhm als Schriftsteller. Im Urteil der Zeitgenossen wie auch späterer Kritiker spiegelt sich die Ambivalenz des Werkes wider, das den Krieg zwar in all seiner Brutalität beschreibt, ihn aber weder ausdrücklich verurteilt noch auf seine politischen Ursachen eingeht. Man kann es daher affirmativ, neutral oder als Antikriegsbuch lesen. Fernab jeder politischen oder moralischen Parteinahme wird der Krieg bei Jünger zum inneren Erlebnis und zu einer das Bewusstsein des Mitwirkenden schärfenden Erfahrung, die den Verfasser zur Erkenntnis der Bedeutung der Tatkraft des Einzelnen im Überlebenskampf führt. ↩︎

  7. Der Einsatz von Chlorgas am 22. April 1915 war die erste großflächige Anwendung von Chemiewaffen der Weltgeschichte. Zuvor hatte es bereits kleinere Einsätze mit Tränengas gegeben, die aber nicht den ‘erhofften’ Erfolg bewirkten. Der Angriff bei Ypern markierte einen Wendepunkt. Die Deutschen setzten rund 168 Tonnen Chlorgas frei, das von den Windverhältnissen auf die alliierten Truppen zugetrieben wurde, was zu erheblichen Verlusten führte. ↩︎

  8. Die genannten Artilleriegeschütze symbolisieren die industrialisierte Kriegsführung des Ersten Weltkriegs. Die ‘Dicke Berta’ war ein 42-cm-Mörser der Firma Krupp, benannt nach Bertha Krupp, der Tochter des Industriellen Alfred Krupp. Mit einem Geschossgewicht von 800 kg und einer Reichweite von 9 km wurde sie zur Zerstörung belgischer und französischer Festungen eingesetzt. Der ‘Lange Max’ bezeichnete die 38-cm-Schiffskanone SK L/45, die als Küstengeschütz und Fernkanone adaptiert wurde und Paris aus über 100 km Entfernung beschießen konnte. Diese Waffen verkörperten nicht nur militärische Überlegenheit, sondern wurden auch zu Symbolen nationalistischer Propaganda, die das Vertrauen in technologischen Fortschritt mit der Zerstörungskraft moderner Kriegsführung verband – ein Widerspruch, der die moralische Krise der europäischen Zivilisation verdeutlichte. ↩︎

  9. Der Begriff “Tabu” entstammt dem polynesischen Kulturraum und wurde Ende des 18. Jahrhunderts durch James Cooks Reiseberichte in den europäischen Sprachgebrauch eingeführt. Ursprünglich bezeichnete “tapu” im Tonganischen heilige Verbote und Unberührbares im religiösen Kontext. In modernen Gesellschaften hat sich die Bedeutung zu einem sozialen Mechanismus erweitert, der bestimmte Themen oder Handlungen mit einem unausgesprochenen Verbot belegt. Sigmund Freud erkannte in “Totem und Tabu” (1913) die psychologische Dimension: Tabus fungieren als kollektive Abwehrmechanismen gegen Bedrohliches oder Unbequemes. Das Charakteristische an Tabus ist ihre implizite Natur - sie werden selten direkt benannt, sondern durch subtile soziale Signale kommuniziert. In unserer Gegenwart manifestieren sich Tabus paradoxerweise inmitten vermeintlicher Diskursfreiheit: Existenzielle Themen werden zwar formal nicht verboten, aber durch soziale Dynamiken wie Themenvermeidung, Verharmlosung oder Ablenkung effektiv aus ernsthaften Gesprächen ausgeklammert. ↩︎

  10. Die traditionellen vier apokalyptischen Reiter aus der Offenbarung des Johannes (Offb 6,1-8) symbolisieren Eroberung/Pestilenz (weißes Pferd), Krieg (rotes Pferd), Hungersnot (schwarzes Pferd) und Tod (fahles Pferd). In zeitgenössischer Adaption stehen sie für globale Bedrohungen unserer Zivilisation. Die hier genannten modernen “Reiter” spiegeln mindestens die ebenso existenziellen Herausforderungen wider, die kollektives Handeln erfordern würden. ↩︎

  11. Der Begriff der “Urteilskraft” hat einen reichen Bedeutungshorizont, der weitaus mehr umfasst als bloßes Entscheiden. Seit Kants einflussreicher “Kritik der Urteilskraft” (1790) bezeichnet er die menschliche Fähigkeit, das Besondere unter das Allgemeine zu subsumieren - und wo nötig, selbst Maßstäbe zu entwickeln. Urteilskraft verbindet Verstand und Vernunft, überbrückt die Kluft zwischen theoretischer Erkenntnis und praktischer Anwendung. Hannah Arendt entwickelte den Begriff in ihren späten Werken weiter als zentrale politisch-moralische Fähigkeit. Sie betonte besonders das “erweiterte Denken” - die Fähigkeit, die Perspektiven anderer einzubeziehen, ohne eigene Urteilsstandards aufzugeben. Diese reflektierende Dimension unterscheidet echte Urteilskraft von bloßer Regelanwendung. Gadamer sah darin ein hermeneutisches Grundprinzip: die Kunst, Allgemeines und Besonderes in produktive Spannung zu bringen. ↩︎

  12. Die Wendung spielt auf das berühmte “Selective Attention Test”-Experiment von Christopher Chabris und Daniel Simons (1999) an. In einem Video sollen Probanden die Ballwechsel einer Gruppe zählen, während ein Mensch im Gorillakostüm durchs Bild läuft. Etwa 50% der Teilnehmer bemerkten den Gorilla nicht - ein Phänomen, das als “Unaufmerksamkeitsblindheit” bekannt wurde. Vgl. Simons, D. J., & Chabris, C. F. (1999): Gorillas in our midst: sustained inattentional blindness for dynamic events. Perception, 28(9), 1059-1074. ↩︎

  13. Das Konzept der “Genauigkeit der Seele” zieht sich als Leitmotiv durch Musils Werk, besonders ausgeprägt im “Mann ohne Eigenschaften” (1930/32). Dort wird es vor allem im Kontext des “anderen Zustands” entwickelt - eines besonderen Bewusstseinsmodus, in dem präzises Denken und intensives Fühlen verschmelzen. Musil fordert eine der wissenschaftlichen Exaktheit ebenbürtige Genauigkeit auch im Bereich des Seelischen und Moralischen. Diese “Genauigkeit der Seele” soll nicht nur analytisch sein, sondern auch die emotionale und intuitive Dimension umfassen. Sie steht im Gegensatz zur oberflächlichen Ungenauigkeit des “Durchschnittsmenschen”, der sich mit vagen Gefühlen und ungefähren Begriffen begnügt. Vgl. dazu besonders Musils Mann ohne Eigenschaften, Zweites Buch, Kapitel 11 und 12. ↩︎

  14. Aus Die fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 125, (1882) ↩︎

  15. Vgl. im Neuen Testament der Bibel Markus 3, 20-30; Lukas 11, 14-23. ↩︎

  16. Vgl. dazu hunderte Artikel, u.a. Financial Times: Trump’s assault on the rule of law: „The speed and intent is remarkable“, 12. März 2025. Online: [https://www.ft.com/content/3741dee9-a801-4572-8f61-997c04d6698d](https://www.ft.com/content/3741dee9-a801-4572-8f61-997c04d6698d](https://www.ft.com/content/3741dee9-a801-4572-8f61-997c04d6698d)) ). - Financial Times: The Challenges of Democracy — tyranny of the majority, 6. März 2025. Online: [https://www.ft.com/content/d3218730-20c7-46c9-bc5b-09a43744518d](https://www.ft.com/content/d3218730-20c7-46c9-bc5b-09a43744518d](https://www.ft.com/content/d3218730-20c7-46c9-bc5b-09a43744518d)) . - Financial Times: Ten weeks that shook the world, 8. April 2025. Online: [https://www.ft.com/content/510069b5-75e5-4f1d-b382-56217f3866bb](https://www.ft.com/content/510069b5-75e5-4f1d-b382-56217f3866bb](https://www.ft.com/content/510069b5-75e5-4f1d-b382-56217f3866bb)) . - [Tagesschau.de](http://Tagesschau.de): Sarre, Claudia: Bei Einwanderern geht wegen Trumps Migrationspolitik die Angst um, 24. Januar 2025. Online: [https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/trump-abschiebepolitik-100.html](https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/trump-abschiebepolitik-100.html](https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/trump-abschiebepolitik-100.html)) (Zugriff: 18. April 2025). - [Tagesschau.de](http://Tagesschau.de): Schmidt, Sarah: Was Trump am ersten Tag entschieden hat, 21. Januar 2025. Online: [https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/dekrete-trump-ueberblick-100.html](https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/dekrete-trump-ueberblick-100.html](https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/dekrete-trump-ueberblick-100.html)) . - Frankfurter Allgemeine Zeitung: Liveblog USA unter Trump: US-Regierung erklärt Migranten für tot, um sie zur Ausreise zu drängen, 17. April 2025. Online: [https://www.faz.net/aktuell/politik/usa-unter-trump/liveblog-usa-unter-trump-us-regierung-erklaert-migranten-fuer-tot-um-sie-zur-ausreise-zu-draengen-faz-19444916.html](https://www.faz.net/aktuell/politik/usa-unter-trump/liveblog-usa-unter-trump-us-regierung-erklaert-migranten-fuer-tot-um-sie-zur-ausreise-zu-draengen-faz-19444916.html](https://www.faz.net/aktuell/politik/usa-unter-trump/liveblog-usa-unter-trump-us-regierung-erklaert-migranten-fuer-tot-um-sie-zur-ausreise-zu-draengen-faz-19444916.html)) (Zugriff: 18. April 2025) ↩︎

  17. Bertolt Brecht: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui. 1941. Erstmals veröffentlicht 1959. Schlusswort. ↩︎

  18. Adjektiv ‘katholisch’ abgeleitet von altgriechisch καθολικός (katholikós), zu deutsch allumfassend. ↩︎

  19. Von altgriechisch ἐσωτερικός (esōterikós), zu deutsch innerlich, dem inneren Kreis vorbehalten - im Gegensatz zu exoterischen (ἐξωτερικός) Lehren, die öffentlich vermittelt wurden. Die Unterscheidung geht auf Philosophenschulen der Antike zurück. ↩︎

  20. Aus Rilkes Gedicht Archaischer Torso Apollos von 1908, angesichts antiker Vitalität, die noch im Stein der Statue zu vibrieren scheint. ↩︎

  21. „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ - Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. KrV B75, A48. ↩︎